BGH 02.07.2024 VI ZR 240/23
Leitsatz
Zur Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs in einem Arzthaftungsprozess.
Tenor
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Kläger wird das Urteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Celle vom 17. Juli 2023 im Kostenpunkt mit Ausnahme der Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 2 und insoweit aufgehoben, als die Klage gegen die Beklagte zu 1 abgewiesen worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 2, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Im Übrigen wird die Nichtzulassungsbeschwerde zurückgewiesen.
Die Kläger tragen die der Beklagten zu 2 im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren entstandenen außergerichtlichen Kosten (§ 97 Abs. 1 ZPO).
Streitwert: bis 50.000 €
Gründe
I.
- Die Kläger nehmen die Beklagten aus eigenem und übergegangenem Recht auf materiellen und immateriellen Schadensersatz wegen behaupteter ärztlicher Behandlungsfehler und mangelhafter Aufklärung im Zusammenhang mit der Geburt und der anschließenden kinderärztlichen Behandlung ihres nur wenige Tage nach der Geburt verstorbenen Kindes in Anspruch.
- Die schwangere Klägerin zu 1 begab sich unmittelbar nach dem am 5. Juli 2015 (eine Woche vor dem errechneten Geburtstermin) erfolgten Blasensprung in das Krankenhaus der Beklagten zu 1, wo sie um 1.35 Uhr in den Kreißsaal aufgenommen wurde. Es wurde dort noch in der Nacht im Hinblick auf eine im Mutterpass dokumentierte B-Streptokokken-Infektion mit einer prophylaktischen Antibiose begonnen. Eine erste Maßnahme zur Förderung der Geburtseinleitung erfolgte am 5. Juli 2015 gegen 13.25 Uhr im Wege der Verabreichung eines sogenannten Geburts- bzw. Wehencocktails. Zwischen dem 5. Juli 2015, 23.00 Uhr und 0.00 Uhr des 6. Juli 2015 erhielt die Klägerin zu 1 zur weiteren Förderung und Unterstützung der Wehen intravenös Oxytocin. Um 5.25 Uhr wurde die Indikation zur sekundären Kaiserschnittentbindung wegen Geburtsstillstands gestellt und das Kind der Kläger gegen 6.15 Uhr am 6. Juli 2015 durch Kaiserschnittentbindung geboren. Das Neugeborene wurde noch am 6. Juli 2015 in die Kinderklinik der Beklagten zu 2 verlegt, wo es sich bis zum 11. Juli 2015 in stationärer Behandlung befand. Einen Tag nach seiner Entlassung verstarb das Kind der Kläger.
- Die Kläger werfen den Beklagten – soweit für das Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren von Interesse – verschiedene Behandlungsfehler vor. Hinsichtlich der medizinischen Behandlung im Haus der Beklagten zu 1 machen sie unter anderem geltend, dass mit der Durchführung geburtseinleitender Maßnahmen zu spät begonnen und die Indikation zur Kaiserschnittentbindung zu spät gestellt worden sei.
- Das Landgericht hat hinsichtlich der Behandlung im Hause der Beklagten zu 1 das in einem Parallelverfahren eingeholte Gutachten des Gynäkologen Prof. L. gemäß § 411a ZPO verwertet und die Klage abgewiesen. Die Berufung der Kläger ist vor dem Oberlandesgericht ohne Erfolg geblieben, wobei das Berufungsgericht keine weitere Beweisaufnahme durchgeführt und die Revision nicht zugelassen hat. Hiergegen wenden sich die Kläger mit der Nichtzulassungsbeschwerde.
II. - 1. Die Nichtzulassungsbeschwerde hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg und führt insoweit gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Das Berufungsgericht ist unter entscheidungserheblichem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG zu der Annahme gelangt, das Landgericht habe zu Recht keinen Behandlungsfehler im Zusammenhang mit der Entbindung der Klägerin zu 1 im Haus der Beklagten zu 1 festgestellt.
- a) Das Berufungsgericht hat – soweit hier erheblich – ausgeführt, das Landgericht habe fehlerfrei einen Behandlungsfehler aufgrund einer verzögerten oder verspäteten Durchführung des Kaiserschnitts nicht festgestellt. Aus den vom Landgericht zugrunde gelegten überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Prof. L. ergebe sich, dass ein Kaiserschnitt weder bereits bei Aufnahme noch zu einem Zeitpunkt vor der Indikationsstellung am 6. Juli 2015 um 5.25 Uhr hätte vorgenommen werden müssen. Das Landgericht und der Sachverständige hätten die Geburtsdauer von ca. 30 Stunden berücksichtigt und mit gut nachvollziehbarer Begründung einen Behandlungsfehler aufgrund der Zeitspanne zwischen Blasensprung und Geburt verneint. Das Infektionsrisiko nach dem vorzeitigen Blasensprung der Klägerin zu 1 sei vom Landgericht und vom Sachverständigen beachtet worden. Nach einem vorzeitigen Blasensprung sei es üblich und korrekt, auf den Eintritt der Spontanwehen zu warten und zunächst keine aktiven Maßnahmen zu ergreifen. Zur Verdeutlichung seiner Einschätzung habe der Sachverständige die wissenschaftliche Literatur ausgewertet und unter anderem Studien herangezogen, nach denen die fetale und maternale Infektionsrate nicht signifikant erhöht sei, wenn ein zuwartendes Verhalten eingeschlagen werde.
- Soweit die Kläger mit der Berufung erneut einen Auszug aus dem Fachbuch „Die Geburtshilfe“ der Auflage des Jahres 2016 vorlegten, ergebe sich – abgesehen davon, dass bei der Behandlung des vorliegenden Geburtsverlaufs im Jahr 2015 nicht auf erst 2016 veröffentliche Erkenntnisse abgestellt werden könne – aus diesen rein abstrakten Empfehlungen keine im vorliegenden Fall nicht beachtete Vorgabe, deren Unterlassen behandlungsfehlerhaft wäre. Dies sei bereits den Formulierungen „wird empfohlen“ und „sollte“ zu entnehmen. Soweit in bestimmten Fällen eine Antibiotika-Prophylaxe durchgeführt werden müsse, sei dies hier geschehen. Allein dass in dem Lehrbuch dem abwartenden Management (aufgrund neuerer Studien) Vorteile einer Geburtseinleitung gegenübergestellt würden, bedeute nicht, dass im vorliegenden Fall die – schließlich durchgeführte – Geburtseinleitung zu einem früheren Zeitpunkt hätte erfolgen müssen und dass das zunächst erfolgte Abwarten behandlungsfehlerhaft gewesen sei. Somit ergäben sich aus dem Vorbringen der Kläger in ihrer Berufungsbegründung einschließlich des vorgelegten Literaturauszugs keine Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der auf der Grundlage der Sachverständigenbewertung getroffenen Feststellungen des Landgerichts.
- Zudem sei dem schriftlichen Gutachten des Sachverständigen Prof. L. zu entnehmen, dass dieser das von der Klägerin zitierte Lehrbuch „Die Geburtshilfe“ in der maßgeblichen im Zeitpunkt des Behandlungsgeschehens bereits vorliegenden Fassung, der 2. Auflage, bei seiner sachkundigen Begutachtung des konkreten Einzelfalls berücksichtigt habe. So habe er daraus zitiert, dass, wenn ein AIS (Amnioninfektionssyndrom) während einer spontanen vaginalen Entbindung auftrete, der Geburtsmodus beibehalten werden könne, falls sich keine zusätzliche kindliche oder mütterliche Indikation zur sofortigen Geburtsbeendigung ergebe. Letzteres habe er verneint. Die Anzeichen einer beginnenden AIS gegen Nachmittag/Abend des 5. Juli 2015 habe er dargestellt und die Fortführung der Antibiotikagabe und den Versuch der Förderung der Geburt als richtiges Vorgehen angesehen. Der Sachverständige habe auch die Förderung der Wehentätigkeit durch Gabe eines sogenannten Geburts- oder Wehencocktails 12 Stunden nach Kreißsaalaufnahme als übliches und richtiges Vorgehen und weder die Geburtseinleitung noch die erfolgte Verabreichung von Oxytocin über den Wehentropf als verspätet bewertet.
- b) Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt mit Erfolg, dass das Berufungsgericht mit diesen Ausführungen in entscheidungserheblicher Weise den Anspruch der Kläger auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt hat, indem es die auf die Ausführungen aus dem Lehrbuch „Die Geburtshilfe“ gestützten Einwendungen der Kläger gegen das gerichtliche Sachverständigengutachten ohne Anhörung des Sachverständigen zurückgewiesen hat.
- aa) Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei seiner Entscheidung in Erwägung zu ziehen. Dabei soll das Gebot des rechtlichen Gehörs als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben (vgl. BVerfGE 88, 366, 375 f. mwN).
- Der Tatrichter darf, wenn es um die Beurteilung einer Fachwissen voraussetzenden Frage geht, auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens nur verzichten, wenn er entsprechende eigene besondere Sachkunde auszuweisen vermag. Zudem muss der Tatrichter, wenn er bei seiner Entscheidung eigene Sachkunde in Anspruch nehmen will, den Parteien zuvor einen entsprechenden Hinweis erteilen (st. Rspr., vgl. nur Senatsbeschluss vom 12. März 2024 – VI ZR 283/21, NJW-RR 2024, 547 Rn. 10 mwN).
- bb) Diesen Anforderungen genügt das Berufungsurteil nicht.
- (1) Die Kläger haben es als behandlungsfehlerhaft beanstandet, dass die Geburt erst um 13.25 Uhr mittels eines sog. Wehencocktails sowie später zusätzlich mittels Oxytocin eingeleitet wurde, obwohl bekanntermaßen eine B-Streptokokken-Besiedlung vorgelegen und deshalb ein erhöhtes Infektionsrisiko für Mutter und Kind bestanden habe. Zum Beleg haben sie sich in ihrer Berufungsbegründung auf die von ihnen dem Gericht vorgelegten Ausführungen im Kapitel „Vorzeitiger Blasensprung am Termin“ in der 5. Auflage (2016) des Lehrbuchs von Schneider et. al., „Die Geburtshilfe“ bezogen. Dort heiße es im Hinblick auf das mit einem langen Zeitintervall zwischen Blasensprung und Beginn der Wehentätigkeit verbundene Gesundheitsrisiko für Mutter und Kind auf Seite 764 unter anderem: „Ein abwartendes Management nach vorzeitigem Blasensprung am Termin ist in Einzelfällen eine mögliche Vorgehensweise, wenn dies die Schwangere ausdrücklich wünscht bzw. ein sehr unreifer Zervixbefund bei einer Nullipara vorliegt. Voraussetzung ist, dass keine Zeichen eines Amnioninfektionssyndroms oder andere Risikofaktoren wie Restriktion oder Streptokokkenbesiedlung vorliegen.“
- (2) Diese Einwendungen gegen die vom Berufungsgericht seiner Entscheidung zugrunde gelegte Einschätzung des gerichtlichen Gutachters, das zunächst abwartende Geburtsmanagement im Hause der Beklagten zu 1 sei nicht zu beanstanden, durfte das Berufungsgericht nicht wie geschehen zurückweisen, ohne den Sachverständigen zuvor – wie von den Klägern beantragt – ergänzend anzuhören. Mit seiner Beurteilung, die Ausführungen in dem Lehrbuch stellten rein abstrakte Empfehlungen dar, die für die Beurteilung des konkreten Behandlungsgeschehens im Streitfall keine ausschlaggebende Bedeutung hätten, hat sich das Berufungsgericht in unzulässiger Weise medizinische Sachkunde angemaßt. Da nach den Feststellungen des Berufungsgerichts bei der Klägerin zu 1 zum Zeitpunkt des vorzeitigen Blasensprungs eine Streptokokkenbesiedlung vorlag und sich im Laufe der Behandlung Anzeichen einer beginnenden AIS zeigten, also zwei Faktoren vorlagen, die nach der zitierten Textpassage des Lehrbuchs einem abwartenden Geburtsmanagement entgegenstehen, konnte der Einwand der Kläger nicht ohne Anhörung des Sachverständigen zurückgewiesen werden.
- Das Berufungsgericht konnte hiervon auch nicht mit der Begründung absehen, bei der Beurteilung des vorliegenden Geburtsverlaufs im Jahr 2015 könne nicht auf erst im Jahr 2016 veröffentliche Erkenntnisse abgestellt werden; das von den Klägern zitierte Lehrbuch „Die Geburtshilfe“ in der im Zeitpunkt des Behandlungsgeschehens maßgeblichen Fassung habe der Gerichtssachverständige bei seiner Begutachtung des konkreten Einzelfalls berücksichtigt. Denn dabei geht das Berufungsgericht darüber hinweg, dass die von den Klägern vorgelegte 5. Auflage des Lehrbuchs zwar aus dem Jahr 2016 stammt, die von den Klägern zitierten Ausführungen zum Geburtsmanagement bei vorzeitigem Blasensprung aber auf Studien bzw. Leitlinien aus den Jahren 2007/2008 Bezug nehmen, und zwar unter Hinweis darauf, dass sich die Argumente für ein abwartendes Management aus älteren Studien abgeleitet hätten. Das Erscheinungsjahr des von den Klägern vorgelegten Textes sprach daher nicht zwingend gegen seine Bedeutung für die Beurteilung des fachärztlichen Standards im Jahr 2015. Die Annahme des Berufungsgerichts, die vom gerichtlichen Sachverständigen herangezogene 2. Auflage des Lehrbuchs (Erscheinungsjahr 2004) sei die im Zeitpunkt des Behandlungsgeschehens maßgebliche gewesen, ist angesichts des Erscheinungsdatums der 5. Auflage im Jahr 2016 nicht nachvollziehbar.
- cc) Die Gehörsverletzung ist auch entscheidungserheblich (§ 544 Abs. 9 ZPO). Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht nach ergänzender Anhörung des gerichtlichen Sachverständigen hinsichtlich der Frage des Vorliegens eines schadensursächlichen Behandlungsfehlers im Haus der Beklagten zu 1 zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.
- 2. Im Übrigen war die Nichtzulassungsbeschwerde zurückzuweisen, weil weder die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert (§ 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Von einer näheren Begründung wird insoweit gemäß § 544 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 2 ZPO abgesehen.
Seiters
Oehler
Müller
Allgayer
Böhm