Rechtsberatung Alttag

BGH 04.06.2024 – VI ZR 108/23

a) In § 630h Abs. 5 Satz 2 BGB sind die vom Senat entwickelten Grundsätze zur Beweislastumkehr nach einem einfachen Befunderhebungsfehler kodifiziert worden. Diese Grundsätze gelten inhaltlich unverändert fort.

b) Die in § 630h Abs. 5 Satz 2 BGB geregelte Beweislastumkehr setzt einen festgestellten Befunderhebungs- oder Befundsicherungsfehler voraus. Sie kommt hingegen nicht zur Anwendung, wenn der Behandlungsfehler in einem Verstoß gegen die Pflicht zur therapeutischen Information liegt.

c) Für die Abgrenzung eines Befunderhebungsfehlers von einem Fehler der therapeutischen Information ist darauf abzustellen, wo der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit ärztlichen Fehlverhaltens liegt. Hierbei sind alle Umstände des Einzelfalles zur berücksichtigen.

d) Zur Verpflichtung des Krankenhausträgers und der den Patienten im Krankenhaus behandelnden Ärzte, für eine sachgerechte Nachbehandlung des Patienten nach der Entlassung aus stationärer Behandlung zu sorgen (hier: Veranlassung der für die Erhaltung der Sehkraft eines Frühgeborenen elementaren augenärztlichen Untersuchung).

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 4. Juni 2024 durch den Vorsitzenden Richter Seiters, die Richterinnen von Pentz und Dr. Oehler sowie die Richter Dr. Klein und Dr. Allgayer

für Recht erkannt:

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 1. März 2023 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand

  1. Der Kläger nimmt die Beklagte wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens in Anspruch.
  2. Der Kläger wurde am 29. Juli 2016 in der 25. Schwangerschaftswoche in der gynäkologischen Klinik des von der Beklagten betriebenen Krankenhauses geboren und in der dortigen Klinik für Kinder- und Jugendmedizin versorgt. Weil sich die Gefäße in der Netzhaut vom Sehnerv in die Peripherie ausbilden und dieser Prozess erst mit dem regulären Geburtstermin abgeschlossen ist, besteht bei Frühgeborenen ein besonderes Risiko für eine gestörte Blutgefäßentwicklung der Netzhaut (Frühgeborenen-Retinopathie) und eine sich daraus entwickelnde Netzhautablösung. Aus diesem Grund wurden beim Kläger regelmäßige augenärztliche Untersuchungen – zuletzt am 18. Oktober 2016 – vorgenommen. Diese ergaben jeweils keine Hinweise auf eine Frühgeborenen-Retinopathie. Am Oktober 2016 wurde der Kläger aus der stationären Behandlung nach Hause entlassen. Der errechnete reguläre Geburtstermin des Klägers wäre der 10. November 2016 gewesen. Laut vorläufigem Entlassungsbrief empfahl die Beklagte eine augenärztliche Kontrolle in drei Monaten.
  3. Am 24. November 2016 wurde beim Kläger in der Universitätsklinik K. eine Frühgeborenen-Retinopathie diagnostiziert. Das rechte Auge des Klägers war nicht mehr zu behandeln. Auf diesem Auge ist der Kläger vollständig erblindet. Die Behandlung des linken Auges hatte kaum Erfolg. Auf diesem Auge hat der Kläger eine hochgradige Sehbehinderung. Ihm ist lediglich noch bei starker Kontraständerung oder bei beleuchteten Gegenständen ein zielgerichtetes Greifen möglich.
  4. Der Kläger wirft der Beklagten – soweit in der Revisionsinstanz noch von Interesse – vor, eine erneute augenärztliche Kontrolle erst nach drei Monaten empfohlen zu haben. Die Abschlussuntersuchung hätte zwingend zum errechneten Geburtstermin des Klägers erfolgen müssen. Der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit ärztlichen Fehlverhaltens liege in der unterbliebenen Kontrolluntersuchung am errechneten Geburtstermin. Bei rechtzeitiger Kontrolle wäre die Retinopathie rechtzeitig erkannt und behandelt und die Erblindung des Klägers verhindert worden.
  5. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht die Beklagte verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 130.000 € nebst Zinsen zu zahlen und den Kläger von vorgerichtlichen Anwaltskosten freizustellen. Darüber hinaus hat es die Ersatzverpflichtung der Beklagten in Bezug auf zukünftige immaterielle und materielle Schäden festgestellt. Mit der vom Oberlandesgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf Abweisung der Klage weiter.

    Entscheidungsgründe:

    I.
  6. Nach Auffassung des Berufungsgerichts haftet die Beklagte dem Kläger für dessen in der Beeinträchtigung der Sehkraft liegenden immateriellen Schaden sowie die daraus resultierenden materiellen Schäden. Der Beklagten sei ein Behandlungsfehler unterlaufen, weil sie den Eltern des Klägers bei Entlassung mit dem vorläufigen Entlassungsbrief empfohlen habe, sich erst in drei Monaten zur augenärztlichen Kontrolle wieder vorzustellen. Eine Wiedervorstellung sei aber innerhalb von drei Wochen nach dem letzten Untersuchungstermin, mithin am November 2016, bzw. zum errechneten Geburtstermin am 10. November 2016 erforderlich gewesen. Dieser Fehler sei als fehlerhafte Sicherungsaufklärung und nicht als Befunderhebungsfehler zu bewerten. Denn die Beklagte habe die Eltern des Klägers zutreffend auf die erforderliche augenärztliche Kontrolluntersuchung hingewiesen. Sie habe lediglich die Dringlichkeitsstufe falsch angegeben. Das
    fehlerhafte Verhalten der Beklagten sei auch für den erheblichen gesundheitlichen Schaden des Klägers ursächlich. Zwar habe der Kläger nicht bewiesen, dass die fehlerhafte Sicherungsaufklärung kausal für den erlittenen Gesundheitsschaden sei. Eine Laserbehandlung der Augen habe zwar eine gute Chance auf Erhalt eines besseren Visus, aber gerade keine an Sicherheit grenzende Erfolgsaussicht gehabt. Dem Kläger komme auch keine Beweislastumkehr nach einem groben Behandlungsfehler zu Gute. Das der Beklagten unterlaufene Versäumnis sei als einfacher Fehler zu qualifizieren. Nach den nachvollziehbaren Angaben des Sachverständigen könne ein grober Fehler nur dann angenommen werden, wenn dem Kläger überhaupt keine adäquate neue Kontrolle empfohlen worden wäre.
  7. Dem Kläger komme jedoch die Beweislastumkehr des § 630h Abs. 5 Satz 2 BGB zu Gute. Die Qualifizierung des ärztlichen Versäumnisses als Fehler der Sicherungsaufklärung nehme der Patientenseite nicht die Möglichkeit, eine Beweislastumkehr durch Nachweis eines fiktiven groben Behandlungsfehlers im Sinne des § 630h Abs. 5 Satz 2 BGB herbeizuführen. Ergebe die Einordnung des Versäumnisses, dass es sich im Schwerpunkt um eine fehlerhafte Sicherungsaufklärung handle, bedeute dies nicht, dass damit die Prüfung beendet und eine Haftung zu verneinen sei. Vielmehr habe die Patientenseite darzulegen, wie sie auf die Aufklärung reagiert hätte, wobei zu ihren Gunsten die Vermutung aufklärungsgerechten Verhaltens streite. Sodann habe sie darzulegen und zu beweisen, dass die dadurch veranlasste Behandlung den Schaden, der tatsächlich eingetreten sei, vermieden hätte. Dies bedeute für Fälle der vorliegenden Art, dass sie beweisen müsse, dass es zu einer Befunderhebung gekommen wäre, dass sich ein reaktionspflichtiger Befund ergeben hätte und dass bei Reaktion auf diesen Befund der Schaden vermieden worden wäre. § 630h Abs. 5 Satz 2 BGB knüpfe an den Vorwurf eines Unterlassens an; regelmäßig bestehe der Vorwurf darin, eine Befunderhebung nicht vorgenommen zu haben. So gesehen sei in beiden Konstellationen die geschuldete Befunderhebung „fiktiv“. Der Senat könne keinen plausiblen Grund erkennen, warum sich die beweisrechtliche Situation des Patienten, der den Beweis aufklärungsgerechten Verhaltens führen könne, erheblich verschlechtern solle, wenn den Behandlern nicht vorzuwerfen sei, die geschuldete Untersuchung nicht durchgeführt zu haben, sondern die geschuldete Untersuchung durch falsche Angaben vereitelt zu haben. Im Gegenteil erschiene eine entsprechende Ungleichbehandlung dem Senat willkürlich.
  8. Die Voraussetzungen der Beweislastumkehr lägen vor. Der Senat sei davon überzeugt, dass der Kläger im Falle einer zutreffenden therapeutischen Aufklärung zu dem errechneten Geburtstermin von seinen Eltern zur Kontrolle vorgestellt worden wäre. Die bei korrekter therapeutischer Aufklärung erfolgte Erhebung von Kontrollbefunden hätte mit überwiegender Wahrscheinlichkeit einen reaktionspflichtigen Befund erbracht. Zum Zeitpunkt der rechtzeitigen Kontrolle wäre mit einer Wahrscheinlichkeit von deutlich über 50 % eine Frühgeborenen-Retinopathie Stadium 3 festgestellt worden. Der Sachverständige habe die Wahrscheinlichkeit sogar mit „an Sicherheit grenzend“ bewertet. Die Interventionsmöglichkeiten (sofortiges Lasern oder weiteres kurzfristiges Beobachten und anschließendes Lasern) seien grundsätzlich geeignet gewesen, den Zustand des Klägers zu verbessern. Die Beklagte habe auch nicht bewiesen, dass die Kausalität ihres Fehlers für den eingetretenen Primärschaden äußerst unwahrscheinlich sei. So gehe der Sachverständige davon aus, dass man die Lesefähigkeit des Klägers (ggf. mit Hilfsmitteln) bei rechtzeitiger Intervention mit hoher Wahrscheinlichkeit hätte erhalten können.
  9. Die Beklagte hafte auch für den gesamten Schaden des Klägers. Der Sachverständige habe keine abgrenzbaren nicht kausalen Schäden benennen können. Er habe sehr schlechte bis hin zu sehr guten Entwicklungen der Sehkraft im Falle rechtzeitigen Einschreitens für möglich gehalten.

    II.
  10. Diese Erwägungen halten den Angriffen der Revision nicht stand. Mit der Begründung des Berufungsgerichts können Schadensersatzansprüche des Klägers gegen die Beklagte nicht bejaht werden.
  11. Die Revision wendet sich mit Erfolg gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts, der von ihm angenommene, in der fehlerhaften Angabe der Dringlichkeit der Kontrolluntersuchung gesehene und als nicht grob qualifizierte Fehler der therapeutischen Information sei kausal für die beim Kläger aufgetretene Sehbeeinträchtigung; dem Kläger komme gemäß § 630h Abs. 5 Satz 2 BGB eine Beweislastumkehr hinsichtlich der haftungsbegründenden Kausalität zugute. Wie die Revision zu Recht geltend macht, knüpft § 630h Abs. 5 Satz 2 BGB die Umkehr der Beweislast an einen Fehler der Befunderhebung oder Befundsicherung; ein Fehler der therapeutischen Information vermag diese Rechtsfolge nicht zu begründen.
  12. Gemäß § 630h Abs. 5 Satz 2 BGB wird vermutet, dass der Behandlungsfehler für eine Verletzung des Lebens, des Körpers oder der Gesundheit ursächlich war, wenn es der Behandelnde unterlassen hat, einen medizinisch gebotenen Befund rechtzeitig zu erheben oder zu sichern, soweit der Befund mit
    hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Ergebnis erbracht hätte, das Anlass zu weiteren Maßnahmen gegeben hätte, und wenn das Unterlassen solcher Maßnahmen grob fehlerhaft gewesen wäre. In dieser Bestimmung sind die vom Senat entwickelten Grundsätze zur Beweislastumkehr nach einem einfachen Befunderhebungsfehler kodifiziert worden (vgl. BT-Drucks. 17/10488, S. 27; Senatsurteile
    vom 27. April 2004 – VI ZR 34/03, BGHZ 159, 48, 56 f., juris Rn. 18; vom 2. Juli 2013 – VI ZR 554/12, VersR 2013, 1174 Rn. 11; vom 24. Februar 2015 – VI ZR 106/13, VersR 2015, 712 Rn. 15; vom 26. Mai 2020 – VI ZR 213/19, VersR 2020, 1052 Rn. 28). Diese Grundsätze gelten inhaltlich unverändert fort (vgl. BTDrucks. 17/10488, S. 31; BeckOK BGB/Katzenmeier, 70. Ed. (Stand:1.5.2024), § 630h Rn. 84; MünchKommBGB/Wagner, 9. Aufl., § 630h Rn. 4, 106).
  13. Nach der gefestigten Rechtsprechung des Senats setzt die nunmehr in § 630h Abs. 5 Satz 2 BGB geregelte Beweislastumkehr einen – festgestellten – Befunderhebungs- oder Befundsicherungsfehler voraus. Sie kommt hingegen nicht zur Anwendung, wenn der Behandlungsfehler in einem Verstoß gegen die Pflicht zur therapeutischen Information liegt (vgl. Senatsurteile vom 11. April 2017 – VI ZR 576/15, VersR 2017, 888 Rn. 15, 17; vom 17. November 2015 VI ZR 476/14, VersR 2016, 260 Rn. 17; vom 16. Juni 2009 – VI ZR 157/08, VersR 2009, 1267 Rn. 8). Dies gilt auch dann, wenn die Verletzung der Informationspflicht – wie zum Beispiel bei fehlendem Hinweis auf die Dringlichkeit der weiter angeratenen diagnostischen Maßnahmen – unmittelbar zur Folge hat, dass die Erhebung medizinisch gebotener Befunde unterbleibt (vgl. Senatsurteile vom 11. April 2017 – VI ZR 576/15, VersR 2017, 888 Rn. 16 f.; vom 17. November 2015 – VI ZR 476/14, VersR 2016, 260 Rn. 17; BeckOK BGB/Katzenmeier, Ed. (Stand: 1.5.2024), § 630h Rn. 89; MünchKommBGB/Wagner, 9. Aufl., § 630h Rn. 106; Staudinger/Gutmann (2021) BGB, § 630h Rn. 198, 216, 218). In einem solchen Fall darf das ärztliche Versäumnis auch nicht in einen Fehler der therapeutischen Information einerseits und in einen Befunderhebungsfehler andererseits aufgespalten werden, sondern ist als einheitlicher Vorgang zu behandeln (Senatsurteil vom 17. November 2015 – VI ZR 476/14, VersR 2016, 260 Rn. 16). Eine Erstreckung der für einfache Befunderhebungs- oder Befundsicherungsfehler entwickelten Beweislastsonderregel auf andere Behandlungsfehler, die zur (unmittelbaren) Folge haben, dass eine medizinisch gebotene Befunderhebung unterbleibt, hält der Senat weder für veranlasst noch für gerechtfertigt (vgl. auch BT-Drucks. 17/10488, S. 31).

    III.
  14. Das Berufungsurteil war aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Die Sache ist nicht zur Entscheidung reif (§ 563 Abs. 3 ZPO). Auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen stellt sich das Berufungsurteil zwar im Ergebnis als richtig dar (1.). Der Beklagten war aber aus Gründen der prozessualen Fairness wie von ihr beantragt Gelegenheit zu geben, ergänzend zu den nachfolgend unter 1. d) aa) (2) näher ausgeführten neuen rechtlichen Gesichtspunkten vorzutragen (2.).
  15. Wie die Revisionserwiderung zu Recht geltend macht, sind die der Beklagten unterlaufenen Versäumnisse in der gebotenen Gesamtbetrachtung auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen nicht als Fehler der therapeutischen Information, sondern als Befunderhebungsfehler zu qualifizieren mit der Folge, dass dem Kläger die in § 630h Abs. 5 Satz 2 BGB angeordnete Beweislastumkehr zu Gute kommt.
  16. a) Ein Fehler der therapeutischen Information (§ 630c Abs. 2 Satz 1 BGB) ist dadurch gekennzeichnet, dass Schutz- oder Warnhinweise unterbleiben, durch die der Erfolg der medizinischen Heilbehandlung – insbesondere die Mitwirkung des Patienten an der Behandlung und ein therapiegerechtes Verhalten – sichergestellt oder mögliche Selbstgefährdungen des Patienten vermieden werden sollen (vgl. Senatsurteile vom 27. April 2021 – VI ZR 84/19, BGHZ 229, 331, Rn. 11; vom 14. September 2004 – VI ZR 186/03, VersR 2005, 227, juris Rn. 13; jeweils mwN; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 8. Aufl., Rn. B 98).
  17. b) Demgegenüber ist ein Befunderhebungsfehler gegeben, wenn die Erhebung medizinisch gebotener Befunde unterlassen wird, wenn also die Ermittlung der – aus medizinischer Sicht erforderlichen – tatsächlichen Grundlagen für eine differenzierte Diagnosestellung, für die Überprüfung der Diagnose oder für die Therapie unterbleibt (vgl. Senatsurteile vom 21. Dezember 2010 – VI ZR 284/09, BGHZ 188, 29 Rn. 13; vom 26. Mai 2020 – VI ZR 213/19, VersR 2020, 1052 Rn. 20). Für die Qualifizierung eines ärztlichen Versäumnisses als Befunderhebungsfehler spielt es dabei keine Rolle, ob der Arzt die unterbliebenen Untersuchungen selbst durchzuführen oder ob er diese anderweitig zu veranlassen bzw. dem Patienten lediglich anzuraten hatte (vgl. Senatsurteile vom 26. Mai 2020 – VI ZR 213/19, NJW 2020, 2467 Rn. 20, 25 – Abklärung einer Mamillenretraktion – mit Anm. Frahm; vom 24. Februar 2015 – VI ZR 106/13, VersR 2015, 712 Rn. 6, 13, 16 – Veranlassen halbjährlicher EKG-Untersuchungen; Beschluss vom 23. Februar 2021 – VI ZR 44/20, VersR 2022, 66 Rn. 10 – Vorstellung in einem sozialpädiatrischen Zentrum).
  18. c) Wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat, ist für die Abgrenzung eines Befunderhebungsfehlers von einem Fehler der therapeutischen Information darauf abzustellen, wo der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit ärztlichen Fehlverhaltens liegt. Hierbei sind alle Umstände des Einzelfalles zur berücksichtigen. Unterlässt es der Arzt etwa, den Patienten lediglich über die Dringlichkeit der – ihm ansonsten zutreffend angeratenen – medizinisch gebotenen Maßnahmen zu informieren und ihn vor Gefahren zu warnen, die im Fall des Unterbleibens entstehen können, liegt grundsätzlich nur ein Verstoß gegen die Pflicht zur therapeutischen Information des Patienten und kein Befunderhebungsfehler vor. Denn in diesen Fällen liegt der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit ärztlichen Fehlverhaltens regelmäßig nicht in der unterbliebenen Befunderhebung als solcher, sondern in dem Unterlassen von Warnhinweisen zum Zwecke der Sicherstellung des Behandlungserfolgs (vgl. Senatsurteile vom 26. Mai 2020 – VI ZR 213/19, VersR 2020, 1052 Rn. 23; vom 11. April 2017 – VI ZR 576/15, NJW 2018, 621 Rn. 15; vom 17. November 2015 – VI ZR 476/14, NJW 2016, 563 Rn. 18). Unterlässt es der Arzt dagegen, einen medizinisch gebotenen Befund rechtzeitig zu erheben oder zu sichern, liegt der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit in der unterbliebenen Befunderhebung. Denn die standardwidrig verspätete Erhebung eines Befundes steht seiner Nichterhebung gleich (vgl. § 630h Abs. 5 Satz 2 BGB; Senatsurteil vom 2. Juli 2013 – VI ZR 110/13, VersR 2014, 261, juris Rn. 2 und 13; Staudinger/Gutmann, BGB, 2021, § 630h, Rn. 198).
  19. Dementsprechend hat der Senat einen Verstoß gegen die Pflicht zur therapeutischen Information in den Fällen angenommen, in denen der Patient von dem ihn behandelnden niedergelassenen Arzt über das Vorliegen eines kontrollbedürftigen Befundes unterrichtet und zur Wiedervorstellung in dessen Praxis aufgefordert worden war, der Patient dieser Aufforderung aber nicht nachgekommen war (Senatsurteil vom 11. April 2017 – VI ZR 576/15, NJW 2018, 621 Rn. 15) bzw. einen zur Abklärung des Befunds vereinbarten Termin abgesagt und keinen neuen Termin vereinbart hatte (Senatsurteil vom 17. November 2015 – VI ZR 476/14, NJW 2016, 563 Rn. 10 f., 15), weil ihm der Grund der Einbestellung und die Dringlichkeit der Abklärung nicht erläutert worden war.
  20. d) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze sind die der Beklagten unterlaufenen Versäumnisse auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen als Befunderhebungsfehler zu qualifizieren. Der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit ärztlichen Fehlverhaltens liegt in der unterbliebenen Befunderhebung als solcher. Der vorliegende Fall unterscheidet sich grundlegend von den unter c) dargestellten Fallgestaltungen. Während der Arzt dort die Befunderhebung durch Empfehlung der gebotenen diagnostischen Maßnahmen und Einbestellung des Patienten in seine Praxis unmittelbar veranlasst hatte und die Durchführung dieser Maßnahmen nur noch von der Mitwirkung des Patienten (Erscheinen in der Praxis) abhing, hat es die Beklagte im Streitfall sowohl pflichtwidrig unterlassen, die Erhebung medizinisch gebotener Befunde zu veranlassen (aa), als auch die Befunderhebung durch falsche Angaben vereitelt (bb).
  21. aa) Die Beklagte war unter den Umständen des Streitfalls verpflichtet, eine weitere Kontrolluntersuchung der Augen des Klägers zu veranlassen.
  22. (1) Nach den auf die Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen gestützten und von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts war es angesichts der Frühgeburtlichkeit des Klägers medizinisch geboten, die Augen des Klägers drei Wochen nach der letzten Untersuchung, mithin am 8. November 2016, oder jedenfalls zum errechneten Geburtstermin am November 2016 erneut auf Anzeichen einer Netzhautveränderung zu kontrollieren. Bei Frühgeborenen besteht ein besonderes Risiko der Entwicklung einer Frühgeborenen-Retinopathie und einer Netzhautablösung. Diesem Risiko kann nur durch regelmäßige Kontrollen und – ggf. sofortiges – Einschreiten im Fall von Auffälligkeiten begegnet werden. Verwirklicht sich das Risiko, droht eine schwerwiegende, das Leben des Kindes massiv beeinträchtigende Schädigung der Sehkraft bis hin zur vollständigen Erblindung. Dementsprechend sind beim Kläger in der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin der Beklagten – zuletzt am 18. Oktober 2016 – auch regelmäßige augenärztliche Untersuchungen durchgeführt worden. Da sich die Gefäße in der Netzhaut des Kindes vom Sehnerv in die Peripherie ausbilden und dieser Prozess erst mit dem regulären Geburtstermin abgeschlossen ist, besteht das besondere Risiko der Entwicklung einer Frühgeborenen-Retinopathie allerdings bis zur Vollreife des Kindes fort. Aus diesem Grund müssen
    die augenärztlichen Kontrollen bis zum errechneten Geburtstermin fortgesetzt werden und hat eine Abschlussuntersuchung zu diesem Zeitpunkt zu erfolgen.
  23. (2) Wäre der Kläger bis zum errechneten Geburtstermin am 10. November 2016 in stationärer Behandlung in der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin der Beklagten verblieben, bestände kein Zweifel daran, dass die Beklagte auch die für die Erhaltung der Sehkraft des Klägers elementare augenärztliche Abschlussuntersuchung zu diesem Zeitpunkt hätte veranlassen müssen. An dieser Verpflichtung ändert sich unter den Umständen des Streitfalles nichts dadurch, dass die Beklagte den Kläger zehn Kalendertage vor der Fälligkeit der Abschlussuntersuchung aus der stationären Behandlung entlassen hat.
  24. (a) Der Senat hat bereits entschieden, dass der Krankenhausträger und die den Patienten im Krankenhaus behandelnden Ärzte verpflichtet sein können, dafür zu sorgen, dass die erforderliche Nachbehandlung eines Patienten sachgerecht erfolgt (Senatsurteil vom 7. Juli 1987 – VI ZR 146/86, VersR 1988, 82 Rn. 10 f.). Dies entspricht dem Grundsatz, dass das Wohl des Patienten oberstes Gebot und Richtschnur jeden ärztlichen Handelns ist (vgl. Senatsurteile vom 26. Januar 1999 – VI ZR 376/97, BGHZ 140, 309, 316 juris Rn. 18; vom 21. Dezember 2010 – VI ZR 284/09, BGHZ 188, 29 Rn. 11; vom 26. Juni 2018 – VI ZR 285/17, VersR 2018, 1192 Rn. 14 ff.; jeweils mwN). So muss der behandelnde Arzt auf eine rasche diagnostische Abklärung und gegebenenfalls Therapie hinwirken, um vermeidbare Schädigungen des Patienten auszuschließen (Senatsurteil vom 14. Juli 1992 – VI ZR 214/91, VersR 1992, 1263 Rn. 25; vgl. Senatsbeschluss vom 2. Juli 2013 – VI ZR 110/13, VersR 2014, 261 Rn. 13). Bei arbeitsteiligem Zusammenwirken müssen die beteiligten Ärzte den spezifischen Gefahren der Arbeitsteilung entgegenwirken und durch Koordination der konkreten Behandlungsabläufe den fachärztlichen Standard der Gesamtbehandlung ohne Lücken an Information, Abstimmung und Behandlungszuständigkeit unter den Behandlungsbeteiligten sicherstellen (vgl. Senatsurteile vom 26. Januar 1999 VI ZR 376/97, BGHZ 140, 309, 316 juris Rn. 18; vom 26. Juni 2018 – VI ZR 285/17, VersR 2018, 1192 Rn. 14, 16; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 8. Aufl., Rn. B 96, 115). Dies gilt auch für die Entlassung des Patienten aus stationärer Behandlung, wenn dieser eine ambulante Anschlussbehandlung benötigt. Auch hier besteht eine Pflicht der behandelnden Ärzte und des Krankenhausträgers, durch hinreichende Information und Koordination des Behandlungsgeschehens vermeidbare Risiken für den Patienten auszuschließen (vgl. Senatsurteil vom Juli 1987 – VI ZR 146/86, VersR 1988, 82, juris Rn. 10 f.; Geiß/Greiner, aaO).
  25. (b) Einer solchen Verpflichtung stehen – anders als in dem der Senatsentscheidung vom 7. Juli 1987 (VI ZR 146/86, VersR 1988, 82, juris Rn. 11) zugrundeliegenden Fall – sozialrechtliche Bestimmungen nicht entgegen. Ein Krankenhausträger ist unter den Voraussetzungen des § 115a SGB V vielmehr berechtigt, gesetzlich Versicherte im Anschluss an die stationäre Krankenhausbehandlung ohne Unterkunft und Verpflegung weiter zu behandeln (nachstationäre Behandlung, vgl. dazu BSG, Urteil vom 17. Juli 2013 – B 6 KA 14/12 R, MedR 2014, 187; BSGE 114, 209; BSGE 121, 94), und gemäß § 39 Abs. 1a SGB V verpflichtet, im Rahmen der bestehenden Versorgungsstruktur für eine sachgerechte Anschlussversorgung nach der Krankenhausbehandlung zu sorgen (Entlassmanagement, vgl. BSGE 120, 82 Rn. 19, 21; Noftz in Hauck/Noftz, SGB V, 5. Erg.lfg, § 39 SGB V, Rn. 129c). Danach ist es Aufgabe des Krankenhauses, in einem Entlassplan die medizinisch unmittelbar erforderlichen Anschlussleistungen festzulegen und in Zusammenarbeit mit den behandelnden Ärzten und dem Pflegepersonal die gebotene Anschlussversorgung fachlich zu strukturieren und zu konkretisieren sowie die vorgesehenen konkreten Abläufe mit den daran Beteiligten zu koordinieren (vgl. BT-Drucks. 18/4095, S. 76; Noftz in Hauck/Noftz SGB V, 5. Erg.lfg, § 39 SGB V, § 39 SGB V, Rn. 129h).
  26. (c) Vor diesem Hintergrund war die Beklagte unter den Umständen des Streitfalls verpflichtet, die für die Erhaltung der Sehkraft des Klägers elementare augenärztliche Abschlussuntersuchung zu veranlassen. Der Zeitpunkt der Untersuchung – der errechnete Geburtstermin am 10. November 2016 – stand fest. Zwischen der Entlassung des Klägers aus der stationären Behandlung und dem Zeitpunkt, zu dem die Untersuchung stattzufinden hatte, lagen nur sieben Werktage. Auch aus der ex-ante Perspektive bestand bis zum Eintritt der Vollreife des Kindes die erhöhte Gefahr einer Netzhautablösung, der nur durch eine sofortige medizinische Intervention hätte begegnet werden können. Ein Unterlassen der Untersuchung, deren Zweck nur durch eine Durchführung zum angegebenen Zeitpunkt erreicht werden konnte, barg das Risiko einer schwerwiegenden und sein Leben massiv beeinträchtigenden Schädigung des Kindes. In dieser Situation hätte die Beklagte zum Schutz des ihr anvertrauten Klägers – wenn sie eine nachstationäre Behandlung des Klägers nicht für erforderlich hielt – zumindest in Absprache mit den Eltern frühzeitig Kontakt mit einem weiterbehandelnden Augenarzt aufnehmen und für einen rechtzeitigen Termin für die Untersuchung des Klägers, beispielsweise durch Vereinbarung eines Untersuchungstermins, sorgen müssen.
  27. bb) Unabhängig davon hat die Beklagte die Durchführung der medizinisch gebotenen augenärztlichen Abschlussuntersuchung und damit die Erhebung von Kontrollbefunden durch falsche Angaben vereitelt. Durch die Mitteilung, eine augenärztliche Kontrolle habe (erst) in drei Monaten zu erfolgen, hat sie den – nach den Feststellungen des Berufungsgerichts uneingeschränkt mitwirkungsbereiten – Eltern des Klägers die Möglichkeit einer rechtzeitigen Abklärung genommen. Diese hatten keinen Anlass, der medizinischen Empfehlung der Beklagten zu misstrauen und sie anderweitig überprüfen zu lassen.
  28. e) Die übrigen Voraussetzungen für eine Beweislastumkehr gemäß § 630 Abs. 5 Satz 2 BGB hat das Berufungsgericht auf der Grundlage der von ihm getroffenen Feststellungen rechtsfehlerfrei bejaht. Dagegen wendet sich die Revision nicht. Die Revision greift auch die Feststellung des Berufungsgerichts nicht an, wonach der Beklagten der Beweis des Gegenteils in Bezug auf die haftungsbegründende Kausalität nicht gelungen sei. Die Revision beanstandet die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts nicht, wonach eine rechtzeitige Laserbehandlung der Augen des Klägers eine gute Chance auf Erhalt einer besseren Sehfähigkeit des Klägers gehabt habe und die Lesefähigkeit des Klägers mit hoher Wahrscheinlichkeit hätte erhalten werden können.
  29. Da die Ausführungen unter 1. d) aa) (2) neue rechtliche Gesichtspunkte
    enthalten, ist der Beklagten aus Gründen der prozessualen Fairness Gelegenheit
    zu geben, hierzu ergänzend vorzutragen (vgl. Senatsurteil vom 16. April 2024 VI ZR 223/21, DB 2024, 1403 Rn. 19 mwN).

Seiters

von Pentz

Oehler

Klein

Allgayer