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BGH 30.07.24 – VI ZR 115/22

SGB VII § 27 Abs. 1, SGB VII § 34 Abs. 1, SGB VII § 34 Abs. 3; BGB 

§ 839 A, Ca; GG Art. 34

Zum Begriff der Erstversorgung durch den Durchgangsarzt und zur Bedeutung der Eintragungen im Durchgangsarztbericht bei der Bestimmung der Passivlegitimation (Fortführung von Senatsurteil vom 29. November 2016 – VI ZR 208/15, BGHZ 213, 120).

BGH, Urteil vom 30. Juli 2024 – VI ZR 115/22 – OLG München
LG Kempten

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 30. Juli 2024 durch den Vorsitzenden Richter Seiters, die Richterinnen Dr. Oehler und Müller, den Richter Böhm und die Richterin Dr. Linder für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerin wird der Beschluss des 24. Zivilsenates des Oberlandesgerichts München vom 18. März 2022 aufgehoben. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand:

  1. Die Klägerin begehrt von der Beklagten materiellen und immateriellen Schadensersatz wegen Aufklärungs- und ärztlichen Behandlungsfehlern in deren Klinikum.
  2. Am 20. Juni 2012 – nach dem Durchgangsarztbericht um 15.20 Uhr – stürzte die zum damaligen Zeitpunkt achtjährige Klägerin auf dem Schulhof. Sie kam am Spätnachmittag in Begleitung ihrer Mutter in die Klinik der Beklagten. Dort wurde nach einer Röntgenuntersuchung die Diagnose einer distalen Unterarmfraktur rechts mit dorsaler Abkippung gestellt. Gegen 17.00 Uhr fand ein Aufklärungsgespräch mit der Klägerin und ihrer Mutter zur geplanten operativen Knochenbruchsbehandlung statt. Um ca. 20.00 Uhr wurde die Narkose eingeleitet, kurz danach mit der Operation begonnen, um 22.45 Uhr wurde die Klägerin auf die Normalstation verlegt. Bei der Operation wurde ein die Wachstumsfuge kreuzender sogenannter Kirschner-Draht zur Fixierung und Stabilisierung eingebracht. Die Klägerin wurde am Tag danach entlassen, am 3. August 2012 wurde der Kirschner-Draht entfernt. 
  3. In dem Durchgangsarztbericht betreffend die Klägerin vom 20. Juni 2012, in dem u.a. als Durchgangsarzt der Chefarzt der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie der Beklagten aufgeführt ist, wird das Schulunfallereignis vom 20. Juni 2012 kurz geschildert“… ausgerutscht und auf den re. Unterarm gefallen“ – und auf 15.20 Uhr datiert. Weiter ist darin ausgeführt: 

    „Befund (…)
    re. Unterarm mit distaler Fehlstellung/Abkippung nach dorsal bei erhaltener pDMS. Bodycheck ansonsten unauffällig.

    Röntgenergebnis
    Unterarm re. und Handgelenk/Handwurzel 2 Eb. (streng seitlich wegen Gelenkflächen): Distale Unterarmfraktur mit dorsaler Abkippung rechts

    Erstdiagnose (Änderungen/Konkretisierungen unverzüglich nachmelden)
    Distale Unterarmfraktur mit dorsaler Abkippung rechts

    Art der Erstversorgung (durch den D-Arzt)
    Geschlossene Reposition und K-Draht am 20.6.2012

    Art der Heilbehandlung durch mich
    Besondere Heilbehandlung stationär“.
  4. Die Parteien stritten vor dem Landgericht insbesondere über die medizinische Indikation des Eingriffs, die Frage der vollständigen ärztlichen Aufklärung und etwaige Behandlungsfehler beim Eingriff, die gesundheitliche Beeinträchtigungen im Bereich des rechten Handgelenks hervorgerufen haben sollen. Das Landgericht hat die Mutter der Klägerin angehört, Ärzte als Zeugen vernommen sowie ein kinderorthopädisches und ein radiologisches Sachverständigengutachten eingeholt. Es hat die Klage abgewiesen, da es sich nicht vom Vorliegen von Behandlungsfehlern überzeugen konnte und von einer wirksamen Einwilligung nach ordnungsgemäßer Aufklärung ausgegangen ist. Die dagegen gerichtete Berufung der Klägerin hat das Oberlandesgericht mit Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO wegen fehlender Passivlegitimation der Beklagten zurückgewiesen. Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihre Berufungsanträge weiter.

    Entscheidungsgründe:

    I.
  5. Das Berufungsgericht hat ausgeführt, die Beklagte sei für die Klage nicht passivlegitimiert. Die Klägerin habe sich die Verletzung bei einem Schulunfall zugezogen. Dementsprechend sei die gesetzliche Unfallversicherung für die Unfallschäden einstandspflichtig. Die Ärzte der Klinik für Unfallchirurgie der Beklagten seien bei der Erstversorgung der Klägerin als Durchgangsärzte der Kommunalen Unfallversicherung Bayern tätig gewesen. Zur Erstversorgung zähle hierbei, wie sich dem Durchgangsarztbericht entnehmen lasse, die geschlossene Reposition des verletzten Arms mit K-Draht-Fixierung am 20. Juni 2012. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs werde der Durchgangsarzt bei der Erstversorgung des Verletzten in Ausübung eines öffentlichen Amtes tätig, mit der Folge, dass die Unfallversicherungsträger für etwaige ärztliche Fehler bei der Erstversorgung hafteten. Ob eine bestimmte Behandlung als Erstbehandlung durch den Durchgangsarzt zu bewerten sei, richte sich nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nach der Dokumentation im jeweiligen Durchgangsarztbericht.
  6. Im Fall der Klägerin stelle der beanstandete Eingriff eindeutig eine Erstbehandlung durch den Durchgangsarzt dar. Nach den Feststellungen des Landgerichts sei nach Vorstellung der Klägerin im Klinikum eine bildtechnische Untersuchung durchgeführt und anschließend die Diagnose einer distalen Unterarmfraktur rechts mit dorsaler Abkippung gestellt worden. Noch am selben Abend sei eine Notoperation durchgeführt worden, in der der Kirschner-Draht eingebracht worden sei. Ausweislich der Entscheidungsgründe des landgerichtlichen Urteils seien die behandelnden Ärzte von einer Notsituation ausgegangen, deren Vorliegen vom Sachverständigen bestätigt und von der Klägerin bestritten worden sei. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs entscheide grundsätzlich der Durchgangsarzt nach Art und Schwere der Verletzung, ob eine allgemeine oder eine besondere Heilbehandlung erforderlich sei. Bei dieser Entscheidung erfülle er eine dem Unfallversicherungsträger obliegende Aufgabe und übe damit ein öffentliches Amt aus. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sei auch die Erstbehandlung durch den Durchgangsarzt der Ausübung des öffentlichen Amtes zuzurechnen. Im vorliegenden Fall sei bereits nach dem zeitlichen Ablauf offensichtlich, dass nach Eintreffen der Klägerin am späten Nachmittag durch die als Durchgangsarzt handelnden Ärzte innerhalb weniger Stunden die Diagnosestellung mittels Röntgen, die vorbereitenden Maßnahmen einschließlich des Aufklärungsgesprächs und im unmittelbaren Anschluss daran die Erstversorgung durch die streitgegenständliche Notoperation ohne jegliche Zäsur erfolgt sei. Die Ärzte hätten entschieden, welche Art der Behandlung erfolgen solle und auch die aus ihrer Sicht erforderliche notwendige Erstversorgung durchgeführt und seien damit der Verpflichtung als Durchgangsarzt, eine schnelle und sachgerechte Heilbehandlung zu gewährleisten, nachgekommen. 
  7. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sei bei der Bestimmung der Passivlegitimation regelmäßig auf den Durchgangsarztbericht abzustellen, in dem der Durchgangsarzt selbst die Art der Versorgung dokumentiere. Hier werde im Durchgangsarztbericht eindeutig unter „Art der Erstversorgung“ die geschlossene Reposition und die Einfügung des K-Drahts dokumentiert. Sowohl aus dem vom Erstgericht festgestellten Handlungsablauf im Zusammenhang mit dem Unfallgeschehen als auch der Dokumentation im Durchgangsarztbericht folge die Wahrnehmung von hoheitlichen Pflichten. Dementsprechend sei der Unfallversicherungsträger auch Hauptkostenträger der ärztlichen Behandlung. Soweit die Klägerin meine, die Operation sei Teil der besonderen stationären Heilbehandlung und zähle nicht mehr zur Erstversorgung durch den Durchgangsarzt, widerspreche dies dem im Urteil unangegriffen dargelegten und im Übrigen von der Klägerin bereits in erster Instanz selbst vorgetragenen Ablauf der ärztlichen Versorgung. Eine unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen Lebenssachverhalts in der dokumentierten Art der Erstversorgung und der tatsächlichen konkreten Ausgestaltung/Durchführung der Maßnahme werde durch die Entscheidungen des Bundesgerichtshofs gerade aufgegeben. Entgegen der Ansicht der Klägerin stelle insbesondere auch die dem Eingriff vorausgehende Aufklärung keine Zäsur dar. Die Klägerin verkenne auch, dass die Haftung der Unfallversicherung auch dann eingreife, wenn der Durchgangsarzt andere Ärzte im Rahmen des ihm anvertrauten öffentlichen Amtes und der damit verbundenen Befugnisse tätig werden lasse.

    II.
  8. Diese Erwägungen halten der revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Mit der Begründung des Berufungsgerichts kann die Passivlegitimation der Beklagten nicht verneint werden. Die Revision der Klägerin macht mit Erfolg geltend, dass Aufklärungsgespräch und Operation der Klägerin nicht mehr Teil der Erstversorgung durch den Durchgangsarzt waren und deshalb auch nicht mehr in Ausübung eines öffentlichen Amtes erfolgten, sodass eine persönliche Haftung der Beklagten in Betracht kommt. 
  9. 1. Zutreffend ist allerdings der Ausgangspunkt des Berufungsgerichts, wonach nach der Rechtsprechung des Senats die Erstversorgung durch den Durchgangsarzt der öffentlich-rechtlichen Aufgabe des Durchgangsarztes zuzuordnen ist.
  10. a) Nach Art. 34 Satz 1 GG haftet anstelle eines Bediensteten, soweit dieser in Ausübung des ihm anvertrauten öffentlichen Amtes gehandelt hat, der Staat oder die Körperschaft, in dessen Dienst er steht. Die persönliche Haftung des Bediensteten ist in diesem Fall ausgeschlossen. Ob sich das Handeln einer Person als Ausübung eines öffentlichen Amtes darstellt, bestimmt sich nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs danach, ob die eigentliche Zielsetzung, in deren Sinn der Betreffende tätig wurde, hoheitlicher Tätigkeit zuzurechnen ist und ob zwischen dieser Zielsetzung und der schädigenden Handlung ein so enger äußerer und innerer Zusammenhang besteht, dass die Handlung ebenfalls als noch dem Bereich hoheitlicher Betätigung angehörend angesehen werden muss. Dabei ist nicht auf die Person des Handelnden, sondern auf seine Funktion, das heißt auf die Aufgabe, deren Wahrnehmung die im konkreten Fall ausgeübte Tätigkeit dient, abzustellen (vgl. Senatsurteile vom 9. März 2010 – VI ZR 131/09, VersR 2010, 768 Rn. 7; vom 20. Dezember 2016 – VI ZR 395/15, NJW 2017, 1745 Rn. 9; BGH, Urteil vom 22. Juni 2006 – III ZR 270/05, VersR 2006, 1684 Rn. 6 f. mwN).
  11. b) Die ärztliche Heilbehandlung ist allerdings regelmäßig nicht Ausübung eines öffentlichen Amtes im Sinne von Art. 34 GG. Auch stellt die ärztliche Behandlung nach einem Arbeitsunfall keine der Berufsgenossenschaft obliegende Aufgabe dar. Der Arzt, der die ärztliche Behandlung durchführt, übt deshalb kein öffentliches Amt aus und haftet für Fehler persönlich (vgl. Senatsurteile vom 28. Juni 1994 – VI ZR 153/93, BGHZ 126, 297, 301; vom 9. Dezember 2008 – VI ZR 277/07, BGHZ 179, 115 Rn. 14; vom 9. März 2010 – VI ZR 131/09, VersR 2010, 768 Rn. 8; vom 29. November 2016 – VI ZR 208/15, BGHZ 213, 120 Rn. 8; vom 20. Dezember 2016 – VI ZR 395/15, NJW 2017, 1745 Rn. 10; vom 10. März 2020 – VI ZR 281/19, MedR 2020, 1026, Rn. 12; BGH, Urteil vom 9. Dezember 1974 – III ZR 131/72, BGHZ 63, 265, 270 f.).
  12. c) Die Tätigkeit eines Durchgangsarztes ist jedoch nicht ausschließlich dem Privatrecht zuzuordnen. Bei der – gemäß § 34 Abs. 1 SGB VII in Verbindung mit § 27 Abs. 1 des nach § 34 Abs. 3 SGB VII geschlossenen Vertrages zwischen der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung e.V., Berlin, dem Spitzenverband der Landwirtschaftlichen Sozialversicherung, Kassel, einerseits und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Berlin, andererseits über die Durchführung der Heilbehandlung, die Vergütung der Ärzte sowie die Art und Weise der Abrechnung der ärztlichen Leistungen (im Folgenden: Vertrag Ärzte/Unfallversicherungsträger), gültig ab 1. Januar 2011 – zu treffenden Entscheidung, ob die allgemeine oder die besondere Heilbehandlung erforderlich ist, erfüllt der Durchgangsarzt eine der Berufsgenossenschaft obliegende Aufgabe. Deshalb ist diese Entscheidung als Ausübung eines öffentlichen Amtes zu betrachten (vgl. Senatsurteile vom 9. Dezember 2008 – VI ZR 277/07, BGHZ 179, 115, Rn. 15-17; vom 29. November 2016 – VI ZR 208/15, BGHZ 213, 120 Rn. 9). Ist seine Entscheidung über die Art der Heilbehandlung fehlerhaft und wird der Verletzte dadurch geschädigt, haftet für Schäden nicht der Durchgangsarzt persönlich, sondern die Berufsgenossenschaft nach Art. 34 Satz 1 GG i.V.m. § 839 BGB (vgl. Senatsurteile vom 9. Dezember 2008 – VI ZR 277/07, BGHZ 179, 115 Rn. 17; vom 9. März 2010 – VI ZR 131/09, VersR 2010, 768 Rn. 9; vom 29. November 2016 – VI ZR 208/15, BGHZ 213, 120 Rn. 9). Gleiches gilt für die Überwachung des Heilungsverlaufs im Rahmen einer Nachschau, sofern sich der Durchgangsarzt dabei auf die Prüfung der Frage beschränkt, ob die bei der Erstvorstellung des Verletzten getroffene Entscheidung zugunsten einer allgemeinen Heilbehandlung aufrechtzuerhalten oder der Verletzte in die besondere Heilbehandlung zu überweisen ist (vgl. § 27 Abs. 1 Satz 4, § 29 Abs. 1 des Vertrages Ärzte/Unfallversicherungsträger in der ab 1. Januar 2011 gültigen Fassung; Senatsurteile vom 9. März 2010 – VI ZR 131/09, VersR 2010, 768 Rn. 12; vom 29. November 2016 – VI ZR 208/15, BGHZ 213, 120 Rn. 9; vom 20. Dezember 2016 – VI ZR 395/15, NJW 2017, 1745 Rn. 11; vom 10. März 2020 – VI ZR 281/19, MedR 2020, 1026 Rn. 13).
  13. d) Darüber hinaus sind auch die vom Durchgangsarzt im Rahmen der Eingangsuntersuchung vorgenommenen Untersuchungen zur Diagnosestellung und die anschließende Diagnosestellung als hoheitlich im Sinne von Art. 34 Satz 1 GG, § 839 BGB zu qualifizieren (Senatsurteile vom 29. November 2016 – VI ZR 208/15, BGHZ 213, 120 Rn. 18 f.; vom 20. Dezember 2016 – VI ZR 395/15, NJW 2017, 1745 Rn. 12). Diese Maßnahmen sind regelmäßig unabdingbare Voraussetzung für die Entscheidung, ob eine allgemeine Heilbehandlung oder eine besondere Heilbehandlung erfolgen soll. Sie bilden die Grundlage für die der Berufsgenossenschaft obliegende, in Ausübung eines öffentlichen Amtes erfolgende Entscheidung, ob eine allgemeine Heilbehandlung ausreicht oder wegen der Art oder Schwere der Verletzung eine besondere Heilbehandlung erforderlich ist, und stehen mit ihr in einem inneren Zusammenhang (vgl. Senatsurteile vom 29. November 2016 – VI ZR 208/15, BGHZ 213, 120 Rn. 19; vom 20. Dezember 2016 – VI ZR 395/15, NJW 2017, 1745 Rn. 12; vom 10. März 2020 – VI ZR 281/19, MedR 2020, 1026 Rn. 14). Ebenfalls hoheitlich einzuordnen ist die Erstversorgung durch den Durchgangsarzt. Da der Durchgangsarzt regelmäßig in engem räumlichem und zeitlichem Zusammenhang mit der Entscheidung über das „Ob“ und „Wie“ der Heilbehandlung und der diese vorbereitenden Maßnahmen auch als Erstversorger tätig wird, sind bei dieser Tätigkeit unterlaufende Behandlungsfehler der Berufsgenossenschaft zuzurechnen. Denn diese Tätigkeiten gehen ineinander über, können nicht sinnvoll auseinandergehalten werden und stellen auch aus Sicht des Geschädigten einen einheitlichen Lebensvorgang dar, der nicht in haftungsrechtlich unterschiedliche Tätigkeitsbereiche aufgespaltet werden kann (Senatsurteile vom 29. November 2016 – VI ZR 208/15, BGHZ 213, 120-131 Rn. 26; vom 20. Dezember 2016 – VI ZR 395/15, NJW 2017, 1745 Rn. 12; vom 10. März 2020 – VI ZR 281/19, MedR 2020, 1026 Rn. 14).
  14. 2. Das Berufungsgericht hat aber den Begriff der „Erstversorgung“ rechtsfehlerhaft verkannt und darüber hinaus den Eintragungen des Arztes im Durchgangsarztbericht für die Qualifizierung der streitgegenständlichen Maßnahmen hier zu Unrecht eine maßgebliche Bedeutung zugesprochen.
  15. a) Die Erstversorgung wird in § 27 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII als Teil der Heilbehandlung genannt. In § 9 des gemäß § 34 Abs. 3 SGB VII abgeschlossenen Vertrages Ärzte/Unfallversicherungsträger wird ausgeführt, dass die Erstversorgung die ärztlichen Leistungen umfasst, die den Rahmen des sofort Notwendigen nicht überschreiten. Die Erstversorgung ist von der durch den Unternehmer zu erbringenden Ersten Hilfe (§§ 14 Abs. 1, 15 Abs. 1 Nr. 5 SGB VII) abzugrenzen (Schmitt, SGB VII, 4. Aufl., § 27 Rn. 5; Köhler in Hauck/Noftz, SGB VII, 5. Ergänzungslieferung, § 27 Rn. 5; Stähler in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VII, 3. Aufl., § 27, Stand 15.04.2024, Rn. 13; vgl. BT-Drucks. 13/2204 S. 83). Maßnahmen der Erstversorgung können je nach Fallkonstellation auch (nur) vom Durchgangsarzt selbst erbracht werden. So gehen die Arbeitshinweise für den Vertrag Ärzte/Unfallversicherungsträger ganz selbstverständlich von vom Durchgangsarzt im Rahmen der Erstversorgung durchgeführten Behandlungsmaßnahmen wie z.B. Wundversorgung, Verbände und Injektionen aus (vgl. Arbeitshinweise der Unfallversicherungsträger zur Bearbeitung von Arztrechnungen unter Berücksichtigung der Neufassung des Vertrages Ärzte/Unfallversicherungsträger Stand Juni 2023 zu §§ 27, 29, 51 Abs. 2 ÄV in Hermanns/Schwartz/von Pannwitz, UV-GOÄ 2024, 23. Aufl., S. 56). 
  16. Die der öffentlich-rechtlichen Amtsausübung des Durchgangsarztes zuzuordnende Erstversorgung findet regelmäßig zeitlich vor dessen Entscheidung über die Art der Heilbehandlung statt. Davon zu unterscheiden sind Maßnahmen, die zeitlich nach und in Vollzug der Entscheidung über die Art der Heilbehandlung durchgeführt werden und grundsätzlich als privatrechtliches Handeln des Durchgangsarztes zu qualifizieren sind. 
  17. b) Gemessen daran lag die Operation der Klägerin nicht mehr im Rahmen des sofort Notwendigen, auch wenn sie von der Beklagten als „Notoperation“ bezeichnet worden ist. 
  18. Gegen eine Qualifikation der Operation als Maßnahme der Erstversorgung spricht entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts bereits der Zeitablauf zwischen dem Eintreffen der Klägerin in der Notaufnahme der Beklagten und dem Beginn der Operation. Auch wenn der Zeitpunkt des Eintreffens bei der Beklagten nicht exakt festgestellt worden ist – jedenfalls nach 15.20 Uhr (angegebene Unfallzeit) -, weisen schon die Tatsachen, dass Zeit für ein Aufklärungsgespräch unter Heranziehung des Aufklärungsbogens zur operativen Knochenbruchbehandlung vorhanden war, dessen Ende dort mit 17.00 Uhr angegeben ist, und dass der eigentliche Eingriff dann erst gegen 20.00 Uhr begann, darauf hin, dass es sich bei der Operation nicht um eine unaufschiebbare Maßnahme gehandelt hat. Hinweise auf zwischenzeitlich eingetretene verzögernde Komplikationen oder notwendige Eilmaßnahmen sind nicht festgestellt und nicht ersichtlich.
  19. Auch den Ausführungen des Sachverständigen Dr. D. lässt sich eine entsprechende Eilbedürftigkeit, anders als das Berufungsgericht meint, nicht entnehmen. Danach lag keine „Notfalloperation“ vor, wenn er auch eine „Notsituation“ mit der Begründung angenommen hatte, dass es sich nicht um einen Wahleingriff gehandelt habe, sondern man etwas habe machen müssen. Dennoch hat er erklärt, man hätte die Operation auch am nächsten Morgen machen können, wenn dies auch zu einer höheren psychischen Belastung des Kindes hätte führen können. Dies kann nur so verstanden werden, dass es zwar sehr wünschenswert war, möglichst zeitnah zu operieren. Eine objektive Eilbedürftigkeit, die den Durchgangsarzt zeitlich genötigt hätte, die Operation vor einer ausreichend vorbereiteten und überlegten Entscheidung über die Frage, ob eine allgemeine oder eine besondere Heilbehandlung erforderlich ist, vorzunehmen, bestand danach aber nicht.
  20. c) Dass der Unfallversicherungsträger Hauptkostenträger der ärztlichen Behandlung war, ist für die Frage nach dem Umfang der Erstversorgung nicht von rechtlicher oder tatsächlicher Bedeutung. Dies ergibt sich unabhängig von der Frage nach der Art der Heilbehandlung und der Ausübung eines öffentlichen Amtes daraus, dass der Versicherte gegen den Unfallversicherungsträger bei Arbeits- bzw. Schulunfällen gem. § 26 SGB VII Anspruch auf Heilbehandlung hat und nach § 11 Abs. 5 SGB V kein Anspruch auf Leistungen gegen die Krankenversicherung besteht, wenn sie als Folge eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung zu erbringen sind (vgl. nur Plagemann in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 11, Stand: 03.01.2024, Rn. 36 mwN).
  21. d) Anderes ergibt sich auch nicht aus der Eintragung im Durchgangsarztbericht, die die Operation in dem Textfeld „Art der Erstversorgung (durch den D-Arzt)“ und in dem Textfeld „Art der Heilbehandlung“ lediglich „durch mich“ und „besondere Heilbehandlung“ „stationär“ ausweist. 
  22. aa) Der Senat hat in seiner Entscheidung vom 29. November 2016 (VI ZR 208/15, BGHZ 213, 120 Rn. 28) zwar darauf hingewiesen, dass die Dokumentation der Erstversorgung durch den Durchgangsarzt bei der Abgrenzung zwischen öffentlich-rechtlichem und privatrechtlichem Handeln helfen kann. Er hat weiter ausgeführt, dass der Durchgangsarzt mit der im Durchgangsarztbericht dokumentierten Entscheidung für die besondere Heilbehandlung die Zäsur zwischen seinen hoheitlichen Pflichten und dem anschließenden privatrechtlichen Behandlungsverhältnis schafft. Die wesentliche Entscheidung zur Erfüllung der Steuerungsfunktion des Durchgangsarztes ist gemäß § 27 Abs. 1 des Vertrages Ärzte/Unfallversicherungsträger an dieser Schnittstelle angesiedelt, an der über die Durchführung einer allgemeinen Heilbehandlung, die Einleitung der besonderen Heilbehandlung oder die Ablehnung einer Heilbehandlung zu Lasten des Unfallversicherungsträgers zu entscheiden ist (vgl. Senatsurteil vom 10. März 2020 – VI ZR 281/19, MedR 2020, 1026 Rn. 22). Daran, dass der Durchgangsarztbericht Anhaltspunkte zur nachträglichen Ermittlung dieser Zäsur liefern kann, hält der Senat fest. Hier soll auch nicht der fachliche Entscheidungsprozess des Durchgangsarztes reguliert werden. Er soll im Rahmen des Vertrages Ärzte/Unfallversicherungsträger alle Maßnahmen durchführen können, die zur Vorbereitung der Entscheidung über die Art der Heilbehandlung aus medizinischer Sicht notwendig sind, auch die Maßnahmen der Erstversorgung, die aus medizinischen Gründen sofort notwendig sind, um den Patienten während dieses Prozesses vor einer Verschlechterung seines Gesundheitszustandes zu bewahren, und er wird hier regelmäßig einen Ermessensspielraum im Fachlichen haben.
  23. Das bedeutet aber nicht, dass der Zeitpunkt dieser Entscheidung und die Beantwortung der Frage, welche Maßnahmen noch der Vorbereitung der Entscheidung dienen und/oder noch der Erstversorgung zuzurechnen sind, zur freien Disposition des Durchgangsarztes stehen. Dies und die damit verbundene Entscheidung, wann die Ausübung seines öffentlichen Amtes endet, stehen nicht in seinem Belieben. Die zu treffende und dann dokumentierte Entscheidung muss sich vertretbar an den Kategorien Erstversorgung (§ 9 Vertrag Ärzte/Unfallversicherungsträger), allgemeine Heilbehandlung (§ 10 Vertrag Ärzte/Unfallversicherungsträger) und besondere Heilbehandlung (§ 12 Vertrag Ärzte/Unfallversicherungsträger) orientieren. Eine mögliche Indizwirkung des Durchgangsarztberichtes für die Beantwortung der Frage, welche Maßnahmen noch im Vorbereitungsstadium erfolgten, entfällt, wenn die Zuordnung zu den aufgezeigten Kategorien beliebig oder willkürlich erscheint. 
  24. bb) Gemessen daran erscheint im Streitfall die Zuordnung der Operation (und ihrer Aufklärungen) zur Erstversorgung trotz der Entscheidung für eine besondere Heilbehandlung stationär nicht mehr vertretbar. Der Durchgangsarzt hat im Entscheidungsprozess für die Weichenstellung zur Art der Heilbehandlung offenkundig den Begriff der Erstversorgung verkannt und ihm Maßnahmen zugeordnet, die zu der besonderen Heilbehandlung gehören und die sich hier faktisch bereits als Vollzug einer zuvor konkludent getroffenen, aber nicht offengelegten Entscheidung für die besondere Heilbehandlung darstellen. Dafür spricht auch, dass im Durchgangsarztbericht für die Klägerin als „Art der Erstversorgung (durch den Durchgangsarzt)“ „geschlossene Reposition und K-Draht-Fixierung“, aber bei „Art der Heilbehandlung“ „besondere Heilbehandlung    stationär“ eingetragen bzw. im Formular angekreuzt ist. Diese Eintragungen sind widersprüchlich, da, wenn die Operation der Erstversorgung zuzuordnen wäre, keine besondere Heilbehandlung mehr erforderlich wäre.
  25. Entgegen der Dokumentation im Durchgangsarztbericht sind deshalb die Operation der Klägerin und die zugehörigen Aufklärungen bereits der besonderen Heilbehandlung durch den Durchgangsarzt zuzuordnen und erfolgten nicht in Ausübung eines öffentlichen Amtes. Damit kommt eine persönliche Haftung der Beklagten grundsätzlich in Betracht.
  26. Danach war das angefochtene Urteil gemäß § 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, da sich das Berufungsgericht – aus seiner Sicht folgerichtig – bisher nicht 
    mit den Fragen einer persönlichen Haftung der Beklagten befasst hat.

Seiters

Oehler

Müller

Böhm

Linder