BGH 11.11.2014 – VI ZR 76/13
Tenor
Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des 7. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 16. Januar 2013 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um Schadensersatzansprüche aus ärztlicher Behandlung.
Die Klägerin zu 1 ist die Witwe und Alleinerbin, die Kläger zu 2 und 3 sind die Kinder von Christian B. (im Folgenden: Patient), bei dem im Sommer 2002 eine hochgradige exzentrische Mitralinsuffizienz bei partiellem Sehnenabriss des hinteren Mitralsegels festgestellt wurde. Der Beklagte zu 2, geschäftsführender Direktor und Chefarzt der Herzchirurgie der von der Beklagten zu 1 betriebenen Universitätsklinik, empfahl ihm deshalb eine operative Korrektur der Mitralklappe. Die Operation wurde am 20. August 2002 durchgeführt, ohne dass es dabei zu Komplikationen kam. Nach der Operation wurde der Patient auf die kardiochirurgische Intensivstation verlegt, wo die Beklagte zu 3 als Krankenschwester zu seiner Überwachung eingeteilt war, die Beklagte zu 5 die Schichtdienstleitung im Pflegedienst innehatte und die Beklagte zu 4 – eine weitere Krankenschwester – ihren Dienst in einem anderen Krankenzimmer versah. Zwischen 22.30 Uhr und 23.00 Uhr kam es beim Patienten zu einem reanimationspflichtigen Zustand. Er wurde reanimiert und intubiert. Am Folgetag, dem 21. August 2002, wurde bei ihm eine hypoxische Hirnschädigung festgestellt. Am 23. September 2002 verstarb der Patient in einer Rehabilitationsklinik.
Die Kläger, die insbesondere von Versäumnissen bei der postoperativen Pflege und Überwachung des Patienten auf der Intensivstation ausgehen und die Einwilligung des Patienten in die Operation für unwirksam halten, nehmen die Beklagten auf Schadensersatz in Anspruch. Die Klägerin zu 1 verlangt – neben der Feststellung der Pflicht der Beklagten zum Ersatz weitergehender Schäden – aus auf sie übergegangenem Recht des Patienten Schmerzensgeld und materiellen Schadensersatz wie insbesondere Fahrtkosten sowie aus eigenem Recht Beerdigungskosten und entgangenen Unterhalt. Die Kläger zu 2 und 3 machen – neben der Feststellung der Schadensersatzverpflichtung der Beklagten auch ihnen gegenüber – ebenfalls entgangenen Unterhalt geltend. Bezüglich der behaupteten Überwachungs- und Pflegeversäumnisse haben die Kläger insbesondere vorgetragen, die Beklagte zu 3 habe das Krankenzimmer des ununterbrochen überwachungsbedürftigen Patienten um 22.30 Uhr verlassen und sei erst um 22.48 Uhr zurückgekehrt, als der Patient, dessen Atemfrequenz nicht in der gebotenen Weise alarmbewehrt überwacht worden sei, bereits bewusstlos und der Atemstillstand bereits eingetreten gewesen sei. Sie habe ihn damit pflichtwidrig 18 Minuten unbeaufsichtigt gelassen. Der Tod des Patienten sei auf die durch den Atemstillstand verursachte Sauerstoffunterversorgung des Gehirns zurückzuführen.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen, das Berufungsgericht die dagegen gerichtete Berufung der Kläger zurückgewiesen. Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgen die Kläger ihre Begehren weiter.
Entscheidungsgründe
I.
Das Berufungsgericht hat Behandlungs- und Aufklärungsfehler verneint.
Hinsichtlich etwaiger Behandlungsfehler hat es nicht für erwiesen erachtet, dass die Beklagte zu 3 den Patienten länger als die – unter den gegebenen Umständen nach den getroffenen Feststellungen noch nicht zu beanstandenden – drei Minuten unbeaufsichtigt gelassen hat. Die Beklagte zu 3 habe glaubhaft angegeben, die im Intensivpflegedokumentationssystem „Care Vue“ (im Folgenden: Care-Vue-System) um 22.35 Uhr vorgenommene Abspeicherung von den Bettnachbarn des Patienten betreffenden Daten noch im Krankenzimmer des Patienten vorgenommen zu haben und erst dann weggegangen zu sein, um für den Patienten ein Schmerzmittel zu besorgen. Auch sei die Feststellung des Landgerichts, die Beklagte zu 3 sei gegen 22.38 Uhr zurückgekommen, als gerade der erste Alarm „Herzfrequenz unter 60“ losgegangen sei, nicht zu beanstanden. Denn die Beklagte zu 3, die – wie die Beklagte zu 5 – bei ihrer Anhörung vor dem Berufungsgericht einen gewissenhaften und glaubwürdigen Eindruck gemacht habe, habe glaubhaft angegeben, sie sei zunächst ins Nachbarzimmer zu Dr. O., der diensthabenden Ärztin, gegangen, die dem Patienten sodann Dipidolor verordnet habe, habe hierauf das Medikament am „Stützpunkt“ bei der Beklagten zu 5 abgeholt und habe sich dann zurück ins Krankenzimmer des Patienten begeben, was alles sehr schnell gegangen sei. Ihre Darstellung stimme mit den Angaben der Zeugin Dr. O. und der Beklagten zu 5 überein, die von keinen Verzögerungen berichtet und angegeben hätten, den Notruf der Beklagten zu 3 schon gehört zu haben, als diese quasi noch auf dem Rückweg gewesen sei. Auch aufgrund der räumlichen Verhältnisse auf der Intensivstation sei nachvollziehbar, dass die Abwesenheit der Beklagten zu 3 rund drei Minuten gedauert habe. Für eine Rückkehr der Beklagten zu 3 gegen 22.38 Uhr spreche im Übrigen der Alarm „Herzfrequenz über 120“ von 22.45 Uhr, den der Sachverständige überzeugend als kardiale Antwort auf die medikamentöse Reanimation gewertet habe, weshalb die Reanimation zwischen 22.38 Uhr und 22.45 Uhr begonnen haben müsse.
Dass die Beklagten zu 3 und 5 in ihrem „Ereignisbericht“ vom 22. August 2002 und die Zeugin Dr. O. in ihrem Bericht vom Januar 2003 den Hilferuf der Beklagten zu 3 erst für 22.48 Uhr bzw. den Beginn der Reanimation für 22.50 Uhr angegeben hätten, lasse nicht auf eine mehr als dreiminütige Abwesenheit schließen. Die Zeitangaben könnten auf einem Irrtum beruhen. Denn die Beteiligten hätten glaubhaft angegeben, den Bericht ohne Abgleich mit den Krankenakten aus dem Gedächtnis gefertigt zu haben; zudem habe für sie die Rekonstruktion der genauen Uhrzeit nicht im Vordergrund gestanden. Auch dass die Werte der Blutgasanalyse erst um 22.53 Uhr vorgelegen hätten, beweise keine längere Abwesenheit der Beklagten zu 3. Denn nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen könne man davon ausgehen, dass die dafür erforderliche Blutentnahme gegen 22.50 Uhr erfolgt sei, was nicht ungewöhnlich sei, da die Reanimation Vorrang habe und erst danach die Blutwerte bestimmt würden. Hinzu komme, dass die Systemzeiten des Herzfrequenzalarms einerseits und des Care-Vue-Systems andererseits voneinander abweichen könnten und die Datenabspeicherung im Care-Vue-System um 22.35 Uhr nicht bedeute, dass die Beklagte zu 3 das Krankenzimmer nicht erst ein oder zwei Minuten später verlassen habe. Da der Herzfrequenzalarm deshalb bezogen auf die Care-Vue-Zeit auch etwas später als 22.38 Uhr eingetreten sein könne, könne sich die von den Klägern monierte Diskrepanz zwischen Beginn der Reanimation und Blutabnahme relativieren. Weiter beweise auch der bei der Blutgasanalyse gemessene hohe pCO2-Wert nicht, dass der Patient länger als drei Minuten unbeaufsichtigt gewesen sei. Denn der Sachverständige habe überzeugend ausgeführt, als Ursache hierfür komme neben einem etwa 10 bis 15-minütigen Atemstillstand bzw. einer länger andauernden Hypoventilation auch die Gabe von Natriumbicarbonat während der Reanimation in Betracht. Dass Natriumbicarbonat im Rahmen der Operation verabreicht worden sei, erscheine möglich, auch wenn eine Natriumbicarbonatgabe nicht dokumentiert worden sei. Zuletzt lasse sich auch aus der unstreitigen Tatsache, dass es zu einem hypoxischen Hirnschaden gekommen sei, nicht schließen, dass es vor der Reanimation eine länger andauernde Atemdepression und somit eine länger andauernde Abwesenheit der Beklagten zu 3 gegeben haben müsse. Denn der Sachverständige habe überzeugend ausgeführt, es sei ebenso denkbar, dass sich die Schädigung erst während der Reanimation ereignet habe.
Auch einen Behandlungsfehler im Zusammenhang mit der Atemfrequenzmessung habe das Landgericht zu Recht verneint. Zwar sei zwischen den Parteien unstreitig, dass die Atemfrequenzmessung nicht alarmbewehrt gewesen sei, doch sei die im Streitfall festgestellte Handhabung nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen üblich und ausreichend. Zuletzt sei die beim Patienten durchgeführte Operation nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen auch indiziert gewesen.
Bezüglich der von den Klägern erhobenen Aufklärungsrüge hat das Berufungsgericht insbesondere ausgeführt, eine medikamentöse Behandlung und ein Hinausschieben der Operation hätten nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen keine Heilungschancen geboten, vielmehr die Gefahr mit sich gebracht, dass sich die Herzfunktion verschlechtere und sich das Risiko bei einer späteren Operation erheblich erhöhe oder die Operation ganz undurchführbar werde. Echte Alternativen, über die aufzuklären gewesen wäre, hätten damit nicht vorgelegen.
II.
1. Diese Erwägungen halten den Angriffen der Revision nicht in vollem Umfang stand.
a) Nicht zu beanstanden ist allerdings die Beurteilung des Berufungsgerichts, der Patient sei im Hinblick auf die durchgeführte Operation ordnungsgemäß aufgeklärt worden, die von ihm erteilte Operationseinwilligung mithin wirksam. Die von der Revision insoweit erhobenen Verfahrensrügen hat der Senat geprüft und nicht für durchgreifend erachtet. Von einer Begründung wird gemäß § 564 Satz 1 ZPO abgesehen.
b) Die Annahme des Berufungsgerichts, es sei nicht erwiesen, dass die Beklagte zu 3 den Patienten länger als drei Minuten unbeaufsichtigt gelassen habe, beruht indes auf Rechtsfehlern.
aa) Grundsätzlich ist die Würdigung der Beweise dem Tatrichter vorbehalten. An dessen Feststellungen ist das Revisionsgericht gemäß § 559 Abs. 2 ZPO gebunden. Dieses kann lediglich nachprüfen, ob sich der Tatrichter entsprechend dem Gebot des § 286 ZPO mit dem Prozessstoff und den Beweisergebnissen umfassend und widerspruchsfrei auseinandergesetzt hat, die Beweiswürdigung also vollständig und rechtlich möglich ist und nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstößt (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. Senatsurteile vom 16. April 2013 – VI ZR 44/12, VersR 2013, 1045 Rn. 13; vom 8. Juli 2008 – VI ZR 274/07, VersR 2008, 1126 Rn. 7; vom 1. Oktober 1996 – VI ZR 10/96, VersR 1997, 362, 364; BGH, Urteil vom 5. Oktober 2004 – XI ZR 210/03, BGHZ 160, 308, 316 f. mwN). Solche Fehler sind im Streitfall gegeben.
bb) Auf Rechtsfehlern beruht zunächst die Annahme des Berufungsgerichts, aus der Tatsache, dass es beim Patienten zu einem hypoxischen Hirnschaden gekommen sei, lasse sich nicht schließen, dass es vor der Reanimation eine länger andauernde Atemdepression und somit eine länger andauernde Abwesenheit der Beklagten zu 3 gegeben habe. Die Revision beanstandet zu Recht, das Berufungsgericht habe zu dieser Einschätzung nicht gelangen dürfen, ohne sich mit den entgegenstehenden Ausführungen aus dem von den Klägern vorgelegten Privatgutachten des Dr. W. auseinanderzusetzen.
(1) In Arzthaftungsprozessen hat der Tatrichter nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung die Pflicht, Widersprüchen zwischen Äußerungen mehrerer Sachverständiger von Amts wegen nachzugehen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, auch wenn es sich um Privatgutachten handelt (z.B. Senatsbeschlüsse vom 11. März 2014 – VI ZB 22/13, VersR 2014, 895 Rn. 12; vom 9. Juni 2009 – VI ZR 261/08, VersR 2009, 1406 Rn. 7; Senatsurteile vom 10. Oktober 2000 – VI ZR 10/00, VersR 2001, 525, 526; vom 28. April 1998 – VI ZR 403/96, VersR 1998, 853, 854; vom 24. September 1996 – VI ZR 303/95, VersR 1996, 1535, 1536; Steffen/Pauge, Arzthaftungsrecht, 12. Aufl., Rn. 765). Legt eine Partei ein medizinisches Gutachten vor, das im Gegensatz zu den Erkenntnissen des gerichtlich bestellten Sachverständigen steht, so darf der Tatrichter den Streit der Sachverständigen nicht dadurch entscheiden, dass er ohne einleuchtende und logisch nachvollziehbare Begründung einem von ihnen den Vorzug gibt (Senatsbeschluss vom 11. März 2014 – VI ZB 22/13, VersR 2014, 895 Rn. 12; BGH, Urteile vom 24. September 2008 – IV ZR 250/06, VersR 2008, 1676 Rn. 11 mwN; vom 22. September 2004 – IV ZR 200/03, VersR 2005, 676, 677 f.).
(2) Diesen Grundsätzen ist das Berufungsgericht im Streitfall nicht gerecht geworden.
Das Berufungsurteil stützt sich hinsichtlich der Annahme, aus dem Eintritt eines hypoxischen Hirnschadens lasse sich nicht schließen, dass es vor der Reanimation eine länger andauernde Atemdepression und somit eine länger dauernde Abwesenheit der Beklagten zu 3 gegeben haben müsse, auf die – vom Berufungsgericht als überzeugend erachteten – Ausführungen des gerichtlich bestellten Sachverständigen. Dieser hatte zuletzt ausgeführt, die Ursache des hypoxischen Hirnschadens sei spekulativ; er müsse nicht schon vor der Reanimation eingetreten sein. Vielmehr könne er sich auch erst während der Reanimation ereignet haben; denn dies lasse sich auch bei einer als zügig und erfolgreich beschriebenen Reanimation nicht sicher vermeiden.
Nicht in den Blick genommen werden dabei die dieser Einschätzung entgegenstehenden Ausführungen des Privatgutachters Dr. W. Dieser ist in seiner gutachterlichen Stellungnahme vom 8. Februar 2009 davon ausgegangen, die Hypoxie habe sich „zeitlich mit Sicherheit vor der Reanimation“ ereignet, und dies nachvollziehbar damit begründet, dass „ausweislich des Kurvenblattes rasch nach Beginn der Reanimation mit einem Sauerstoffdruck PO2 von 218 eine suffiziente Oxygenierung bestanden“ habe. Dem Berufungsurteil lässt sich weder entnehmen, dass das Berufungsgericht diese fachliche Einschätzung bedacht hat, noch, aus welchen Gründen es der Einschätzung des gerichtlich bestellten Sachverständigen den Vorzug gegenüber derjenigen des Privatgutachters gegeben hat. Entsprechende Darlegungen waren im Streitfall umso mehr veranlasst, als – worauf die Revision zutreffend hinweist – ursprünglich auch der gerichtliche Sachverständige davon ausgegangen war, dass angesichts der rasch erfolgreich verlaufenen Reanimation davon ausgegangen werden müsse, „dass im Wesentlichen die Phase vor der Reanimation zerebrotoxisch war“ (vgl. Ergänzende Stellungnahme zum intensivmedizinischen Fachgutachten vom 29. Mai 2008, S. 9). Erst im weiteren Verfahren hat er diese Aussage dahingehend relativiert, angesichts der nach allen Berichten erfolgreichen Reanimation erscheine „die Theorie wahrscheinlich, dass die Hypoxie bereits vorher eingetreten war“, Beweise hierfür fänden sich aber nicht (so Ergänzende Stellungnahme zum intensivmedizinischen Gutachten vom 20. September 2009, S. 3) bzw. im Rahmen einer Reanimation sei es auch bei optimalen Bedingungen immer möglich, dass es zu einem solchen hypoxischen Schaden wie beim Patienten komme (so Anhörung vom 7. Juli 2010). Insoweit drängte sich im Übrigen die vom Berufungsgericht nicht geklärte Frage auf, ob der Sachverständige mit der Möglichkeit einer Entstehung des hypoxischen Hirnschadens erst im Rahmen der Reanimation nur eine rein theoretische Möglichkeit, die sich im Streitfall auf keine tragfähigen Anhaltspunkte stützen kann, dargelegt hat. Wäre dies der Fall, hätte sie im Rahmen der Beweiswürdigung durch das Gericht außer Betracht zu bleiben (vgl. Senatsurteile vom 24. April 2001 – VI ZR 258/00, VersR 2001, 1262, 1264; vom 24. Juni 1980 – VI ZR 7/79, VersR 1980, 940, 941; BGH, Urteile vom 11. April 2013 – I ZR 152/11, NJW-RR 2014, 112 Rn. 17; vom 11. Juli 1991 – III ZR 177/90, BGHZ 115, 141, 146).
cc) Auf Rechtsfehlern beruht darüber hinaus die Annahme des Berufungsgerichts, auch der bei der Blutgasanalyse gemessene pCO2-Wert von 92,0 beweise nicht, dass der Patient länger als drei Minuten unbeaufsichtigt gewesen sei.
(1) Das Berufungsgericht begründet dies mit der Überlegung, der Sachverständige habe überzeugend ausgeführt, als Ursache dieses pCO2-Werts komme neben einem etwa 10 bis 15-minütigen Atemstillstand bzw. einer über einen längeren Zeitraum andauernden Hypoventilation die – nach Auffassung des Berufungsgerichts möglicherweise erfolgte – Gabe von Natriumbicarbonat in Betracht. Dass die Gabe von Natriumbicarbonat nicht dokumentiert sei, stehe dem nicht entgegen. Denn der Beklagte zu 2 habe glaubhaft erklärt, die Gabe von Natriumbicarbonat im Rahmen einer Reanimation sei in der Herzchirurgie der Beklagten zu 1 Routine. Auch der Sachverständige habe bestätigt, dass es sich um eine Routinemaßnahme handle, sowie darüber hinaus die Vermutung geäußert, dass die Gabe von Natriumbicarbonat bei vielen Reanimationen nicht vermerkt werde. Da die Dokumentation im Streitfall auch an anderen Stellen lückenhaft sei, liege das nicht fern.
(2) Diese Ausführungen verkennen die Bedeutung der Dokumentation. Nach gefestigter Rechtsprechung des erkennenden Senats begründet das Fehlen der Dokumentation einer aufzeichnungspflichtigen Maßnahme die Vermutung, dass die Maßnahme unterblieben ist (vgl. Senatsurteil vom 14. Februar 1995 – VI ZR 272/93, BGHZ 129, 6, 10; Senatsbeschluss vom 9. Juni 2009 – VI ZR 261/08, VersR 2009, 1406 Rn. 4; ferner Steffen/Pauge, Arzthaftungsrecht, 12. Aufl., Rn. 548; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 7. Aufl., B Rn. 247; vgl. jetzt auch § 630h Abs. 3 BGB). Diese Vermutung entfällt weder deshalb, weil in der Praxis mitunter der Pflicht zur Dokumentation nicht nachgekommen wird (Senatsurteil vom 14. Februar 1995, aaO), noch deshalb, weil die Dokumentation insgesamt lückenhaft ist. Ob das Berufungsgericht – was unklar bleibt – die Dokumentationspflichtigkeit der Gabe von Natriumbicarbonat im Rahmen einer Reanimation aus medizinischen Gründen bejaht oder ob es diese Frage letztlich offengelassen hat, kann für das Revisionsverfahren dahinstehen. Denn die Dokumentationspflichtigkeit ist jedenfalls revisionsrechtlich zu unterstellen. War die Gabe von Natriumbicarbonat im Rahmen der Reanimation aber dokumentationspflichtig, so wäre zugunsten der Kläger zu vermuten, dass kein Natriumbicarbonat verabreicht wurde, und die – von den Beklagten im Übrigen erst nach dem entsprechenden Hinweis des gerichtlichen Sachverständigen angesprochene und zudem auch dann nicht konkret behauptete – Gabe von Natriumbicarbonat als alternative Ursache für den hohen pCO2-Wert mithin ausscheidet.
dd) Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Berufungsgericht zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre, wenn es sich mit den Ausführungen des Privatgutachters Dr. W. auseinandergesetzt oder/und die Gabe von Natriumbicarbonat als Alternativursache für den hohen pCO2-Wert ausgeschlossen hätte, war das Berufungsurteil gemäß § 563 Abs. 1 ZPO aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
2. Im Rahmen der erneuten Befassung wird das Berufungsgericht auch die besondere Bedeutung zu berücksichtigen haben, die dem von den Beklagten zu 3 und 5 nur zwei Tage nach dem Vorfall verfassten „Ereignisbericht“ als Bestandteil der Behandlungsdokumentation zukommt. Legt man die Darlegungen im „Ereignisbericht“, die Ansätze einer Erklärung für die dort angegebene Abwesenheitsdauer erkennen lassen („Die Ampulle musste erst durch die Schichtleitung Michaela W[…] ausgeschlossen werden.“), zugrunde, so ist von einer deutlich längeren Abwesenheitsdauer der Beklagten zu 3 als die vom Berufungsgericht in Übereinstimmung mit dem Sachverständigen noch als tolerabel angesehene Dauer von drei Minuten auszugehen. Ob vor diesem Hintergrund im Rahmen der erforderlichen Gesamtwürdigung ein schadensursächlicher Überwachungsfehler als bewiesen angesehen werden kann, wird das Berufungsgericht zu bewerten haben. Freilich wird es dabei – wie auch bei der Bewertung der Aussagen des Sachverständigen – zu beachten haben, dass das „Für-Wahr-Erachten“ im Sinne des § 286 ZPO vom Richter keine absolute oder unumstößliche Gewissheit im Sinne des wissenschaftlichen Nachweises verlangt, sondern nur einen für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen (vgl. z.B. Senatsurteil vom 26. Oktober 1993 – VI ZR 155/92, VersR 1994, 52, 53; ferner Steffen/Pauge, Arzthaftungsrecht, 12. Aufl., Rn. 593).
Im Übrigen wird das Berufungsgericht im Rahmen der erneuten Befassung auch Gelegenheit haben, das weitere wechselseitige Vorbringen der Parteien in der Revisionsinstanz zu berücksichtigen.