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BGH 16.09.2014 – VI ZR 118/13

Tenor

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin wird das Urteil des Saarländischen Oberlandesgerichts vom 6. März 2013 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Gegenstandswert: 100.000 €

Gründe

I.
Die Klägerin nimmt den Beklagten zu 1, einen niedergelassenen Gynäkologen, und dessen Gemeinschaftspraxis wegen unterlassener Aufklärung über die mit der Durchführung einer HPV-Impfung mit dem Impfstoff Gardasil verbundenen Risiken auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens in Anspruch. Die Impfungen erfolgten kurz nach dem 18. Geburtstag der Klägerin am 31. Januar 2007 (laut Dokumentation), am 18. April 2007 und am 17. Dezember 2007. Die Klägerin behauptet, ein Aufklärungsgespräch über die Impfung sei nicht geführt worden. 14 Tage nach der letzten Impfung habe sie gesundheitliche Störungen in Gestalt von Schwindel, Kopfschmerz, Sehstörungen, Schweißausbrüchen, Muskelkrämpfen in den Armen und Beinen, permanenter Müdigkeit, Lähmungen in der Kopfhälfte (ein gefühltes Zusammenziehen der Kopfhälften), Lichtempfindlichkeit, Sehen von Blitzen und schwarzen Punkten, Bauchkrämpfen und Übelkeit erlitten. Diese Beschwerden dauerten bis heute an und stellten dauerhafte Folgeschäden dar. Es liege ein Impfschaden vor, nämlich ein schwerer neurologischer Dauerschaden durch eine Schädigung des zentralen Nervensystems. Das Landgericht hat die Klage nach Einholung eines Sachverständigengutachtens und nach Anhörung der Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung vom 10. August 2011 abgewiesen. Die hiergegen gerichtete Berufung der Klägerin hat das Oberlandesgericht zurückgewiesen. Die Revision hat es nicht zugelassen. Dagegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde.

II.
Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht.
Das Berufungsgericht hat den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise verletzt, indem es erheblichen Sachvortrag der Klägerin und das zugehörige Beweisangebot nicht berücksichtigt hat und zudem der Sachverständigen nicht gemäß § 407a Abs. 4 ZPO aufgegeben hat, die ihrem Gutachten zugrunde gelegten weiteren Gutachten des Neurologen Prof. Dr. G. und der Fachärztin für medizinische Mikrobiologie, Virologie und Infektionsepidemiologie, Prof. Dr. Gä. , herauszugeben, so dass die Klägerin sich dazu äußern konnte.
1. Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Dabei soll das Gebot des rechtlichen Gehörs als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. In diesem Sinne gebietet Art. 103 Abs. 1 GG i.V.m. den Grundsätzen der Zivilprozessordnung die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebotes verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze findet (vgl. Senat, Beschluss vom 12. Mai 2009 – VI ZR 275/08, NJW 2009, 2604 ff. mwN).

So verhält es sich im Streitfall. Das Berufungsgericht ist auf der Grundlage des Sachverständigengutachtens vom 25. Februar 2011 davon ausgegangen, dass es an einer kausal auf die Impfung zurückzuführenden Gesundheitsbeeinträchtigung fehle. Für diese Feststellung war auch maßgeblich, dass die Sachverständige aufgrund der Zeitabstände zwischen den dokumentierten ärztlichen Konsultationen bei der Beurteilung des Kausalzusammenhangs angenommen hat, dass bestimmte, von der Klägerin behauptete Gesundheitsbeeinträchtigungen erst acht Monate nach der letzten Impfung aufgetreten seien. Die Klägerin hat jedoch unter Beweisantritt (Zeugnis K. und Dr. S. ) vorgetragen, dass ihre gesundheitlichen Beeinträchtigungen bereits 14 Tage nach der letzten Impfung zu beobachten gewesen seien und auch noch fortdauerten. Diesem Beweisantritt ist das Gericht nicht nachgegangen. Er war erheblich. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Beweisaufnahme Feststellungen ergeben hätte, die zu anderen sachverständigen Schlussfolgerungen führen könnten.

2. Die Gewährung des rechtlichen Gehörs erfordert auch, dass einer gerichtlichen Entscheidung nur solche Tatsachen und Beweise zugrunde gelegt werden, zu denen sich die Beteiligten vorher äußern konnten (BVerfGE 55, 95 ff.; BVerfGE 84, 188 ff.; BVerfG, NVwZ 2009, 580 f.). Wenn der vom Gericht ernannte Sachverständige die wesentlichen tatsächlichen Grundlagen seines Gutachtens nicht offen legt, kann nicht nur das Gericht seiner Pflicht aus § 286 ZPO, Gutachten gerichtlicher Sachverständiger sorgfältig und kritisch zu würdigen, nicht nachkommen, sondern verletzt die Verwertung dieses Gutachtens auch das Recht der Partei auf rechtliches Gehör (BGH, Urteil vom 12. November 1991 – KZR 18/90, BGHZ 116, 47, 58), da es einer Verhinderung des Vortrags zu entscheidungserheblichen Punkten gleich kommt, wenn der Partei nicht die Gelegenheit gegeben wird, sich mit allen Grundlagen des Gutachtens kritisch auseinanderzusetzen. Im Hinblick darauf konnte das Berufungsgericht nicht davon absehen, die beiden zusätzlichen Gutachten und insbesondere die dort beschriebenen Untersuchungsergebnisse der neurologischen Untersuchungen der Klägerin von der Sachverständigen anzufordern, um sie auch den Parteien zugänglich zu machen, zumal die Klägerin diese Unterlagen nachgefragt und wegen ihres Fehlens der Verwertung des Gutachtens der Sachverständigen widersprochen hat.

Auch diese Gehörsverletzung ist entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht nach der gebotenen erneuten Würdigung des Gutachtens unter Berücksichtigung der zugrunde gelegten weiteren Gutachten und der Stellungnahmen der Parteien zu einer anderen Beurteilung gelangt wäre.

III.
Bei der neuen Verhandlung wird das Berufungsgericht Gelegenheit haben, der Gerichtssachverständigen gemäß § 407a Abs. 4 ZPO aufzugeben, die weiteren Gutachten herauszugeben, und gemäß § 404 Abs. 1 Satz 1 ZPO die genannten Gutachter oder andere Sachverständige für diese Fachbereiche zu Sachverständigen zu ernennen. Es wird auch zu beachten haben, dass sich die Klägerin auf das Gutachten des Prof. Dr. Ke. vom 29. Juni 2010 aus dem Verfahren nach dem Infektionsschutzgesetz beim Landesamt für Soziales, Gesundheit und Verbraucherschutz des Saarlands (Az.: A 6 4/09 IfSG) gestützt hat, mit dem sich weder das Gericht noch die Sachverständige bisher auseinandergesetzt haben. Die in diesem Gutachten dargestellten mündlichen Angaben der Klägerin anlässlich ihrer Vorstellung bei Prof. Dr. Ke. können dem Gericht auch erste Anhaltspunkte bei einer Anhörung der Klägerin und Vernehmung der in der Klageschrift benannten Zeugen für die behaupteten gesundheitlichen Störungen nach der letzten Impfung geben.