BGH 22.03.2022 – VI ZR 16/21
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Koblenz vom 16. Dezember 2020 wird zurückgewiesen. Die Klägerin trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
Von Rechts wegen
Tatbestand
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Die Klägerin nimmt den beklagten Arzt, soweit in der Revisionsinstanz noch von Interesse, wegen unzureichender Aufklärung ihrer Mutter vor ihrer Geburt auf Zahlung von weiterem Schmerzensgeld in Anspruch.
Randnummer2
Die Klägerin wurde im Jahr 2006 nach einer zunächst eingeleiteten Vaginalgeburt im Wege der Notsectio geboren. Bei ihrer Mutter war im Jahr 2003 bei einer früheren Geburt eine elektive Sectio durchgeführt worden. Bei der nunmehr mit Hilfe von Prostaglandin eingeleiteten Geburt der Klägerin kam es zu einer plötzlichen Uterusruptur und die Klägerin wurde in „schwer deprimiertem“ Zustand entwickelt. Nach dem rechtskräftigen Urteil des Berufungsgerichts vom 12. Juli 2017 ist der dem Beklagten gegenüber geltend gemachte Klageanspruch dem Grunde nach berechtigt und er ist verpflichtet, der Klägerin jeden künftigen materiellen und immateriellen Schaden aus ihrer Geburt zu ersetzen. Nach den Feststellungen in dieser Entscheidung haftet der Beklagte der Klägerin auf materiellen und immateriellen Schadensersatz, weil er die Mutter der Klägerin wegen des erhöhten Risikos einer Uterusruptur bei vaginaler Geburt nach vorausgegangenem Kaiserschnitt und bei einer Einleitung mittels Prostaglandin über eine Sectio als Alternative zur Vaginalentbindung hätte aufklären müssen und dies nicht getan hat, obwohl ihm die aufklärungspflichtige Risikoerhöhung bei Geburtseinleitung bekannt sein musste. Besprochen wurde nur eine Spontangeburt in Abgrenzung zu einer – bei einem Geburtsstillstand – nicht zu spät einzuleitenden Schnittentbindung. Die Klägerin leidet seit ihrer Geburt unter einer infantilen globalen dyskinetischen Cerebralparese mit Störung des Bewegungsapparates und gravierenden Koordinationsstörungen. Betroffen sind die psychischen und kognitiven Bereiche sowie die Persönlichkeitsbildung. Es liegt eine deutliche Mikrozephalie vor und sie leidet unter Epilepsie. Sie kann nicht sprechen, nicht ohne Hilfe essen, nicht lesen und schreiben. Sie kann keine gezielten Bewegungen ausführen, nicht laufen, nicht stehen und nur mit Hilfsmitteln sitzen, es bestehen Gelenkdeformationen sowie Versteifungen. Auch eine Inkontinenz liegt vor. Aufgrund einer Fehlkoordination der Zunge stößt sie Speisen aus der Mundhöhle aus und muss gefüttert werden. Sowohl die Nahrungsaufnahme als auch die Flüssigkeitszufuhr müssen sorgfältig überwacht werden. Dennoch ist die Klägerin erheblich unterernährt. Sie leidet an einer ausgeprägten Intelligenzminderung. Die Sehkoordination und Hörfähigkeit ist herabgesetzt. Die Klägerin kann ihren Kopf nicht länger als 60 Sekunden gerade halten, bevor er zur Seite oder nach vorne fällt. Von Geburt an wurde sie zu Hause von den Eltern gepflegt. Seit August 2009 besuchte sie täglich von 8.00 Uhr bis 15.30 Uhr einen Kindergarten, später eine Förderschule. Aktuell ist sie in die Pflegestufe 5 eingeordnet. Im November 2017 zahlte der Beklagte einen Betrag in Höhe von 400.000 €, von dem 300.000 € auf das Schmerzensgeld und 100.000 € auf die Pflegeleistungen entfielen.
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Mit der Klage hat die Klägerin, soweit in der Revisionsinstanz noch von Interesse, als Schmerzensgeld einen Betrag von mindestens 680.000 € begehrt. Das Landgericht hat der Klage in Höhe von 500.000 € abzüglich der im November 2017 gezahlten 300.000 € stattgegeben. Die dagegen gerichtete Berufung der Klägerin hat das Oberlandesgericht zurückgewiesen. Mit ihrer insoweit vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt sie ihr Klagebegehren auf Zahlung eines weiteren Schmerzensgeldes in Höhe von 180.000 € weiter.
Entscheidungsgründe
I.
Randnummer4
Das Berufungsgericht, dessen Urteil in VersR 2021, 1311 veröffentlicht ist, hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt: Zu Recht und mit zutreffender Begründung habe das Landgericht einen Schmerzensgeldbetrag von 500.000 € als angemessen, aber auch ausreichend angesehen. Die Funktion des Schmerzensgeldes bestehe nach ständiger Rechtsprechung darin, dem Verletzten einen Ausgleich für die erlittenen immateriellen Schäden und ferner Genugtuung für das ihm zugefügte Leid zu geben. Hierbei sei es in Fällen, in denen es wegen eines Behandlungsfehlers bei der Geburt zu schweren Hirnschädigungen gekommen sei, geboten, diejenigen Umstände, die dem Schaden im Einzelfall sein Gepräge gäben, eigenständig zu bewerten und aus einer Gesamtschau die angemessene Entschädigung für das sich darbietende Schadensbild zu ermitteln. Unterstelle man das gesamte Vorbringen der Klägerin und auch die von ihr vorgelegten Gutachten und Berichte als wahr, sei das ausgeurteilte Schmerzensgeld angemessen. Die bei der Klägerin bestehende Hirnschädigung sei besonders stark ausgeprägt. Die dyskinetische Parese umfasse den gesamten Körper und führe zu einer hochgradigen Körperunruhe. Der IQ werde auf unter 30 geschätzt. Die Klägerin sei vollständig und dauerhaft pflegebedürftig. Die Parese habe zwangsläufig Einfluss auf das gesamte tägliche Leben, beispielsweise weil durch die betroffene Zungenmuskulatur die Nahrungsaufnahme massiv beeinträchtigt werde und es für die Klägerin extrem anstrengend sei, den „Tobii Talker“ zu fixieren. Die Klägerin könne nicht sprechen, nur lautieren und sich über Kopfbewegungen verständlich machen (ja/nein). Sie bedürfe der permanenten Unterstützung bei der Nahrungsaufnahme und könne nicht lesen und schreiben. Sie sei auf einen Rollstuhl angewiesen, könne jedoch ohne Hilfsmittel nicht sitzen und nur mit Unterstützung eines Stehtrainers und eines Walkers in geringem Umfang ein Steh- und Gehtraining absolvieren, ohne dabei Gehfähigkeit zu erlangen. Ihr Leben sei stark durch verschiedene Therapien beeinflusst. Andererseits sei zu berücksichtigen, dass sie zunächst ab dem 3. Lebensjahr einen Kindergarten habe besuchen können und seit dem 6. Lebensjahr eine Förderschule besuche. Sie sei, wenn auch in sehr eingeschränktem Umfang, in der Lage, mit anderen Kindern in Interaktion zu treten, und könne mit individueller Unterstützung mit Hilfe des „Tobii Talkers“ Unterrichtsbeiträge erbringen. Mit einem speziellen Fahrrad könne sie kurze Strecken zurücklegen. Im Hinblick darauf, dass ihre Persönlichkeit zwar schwer beeinträchtigt sei, in geringem Umfang aber durchaus noch zum Tragen komme, sei unter Berücksichtigung der Gesamtumstände ein 500.000 € übersteigendes Schmerzensgeld nicht mehr angemessen. Hierbei könne dahinstehen, ob der Betrag von 500.000 € in der Regel eine Obergrenze für Fälle von Geburtsschäden mit schweren Hirnschädigungen bilde. Jedenfalls biete der Streitfall keinen Anlass, diesen Betrag zu überschreiten. Hierbei sei auch berücksichtigt, dass es der Klägerin möglich sei, ihre Situation zu reflektieren. Die trotz der schweren Hirnschädigung noch vorhandenen kognitiven Fähigkeiten machten es der Klägerin nachvollziehbar sicher schmerzhaft bewusst, dass sie gegenüber anderen Kindern stark eingeschränkt sei. Andererseits ermöglichten diese Fähigkeiten ihr aber auch in begrenztem Umfang eine Teilhabe am sozialen Leben und mit Hilfsmitteln auch eine Kommunikation mit ihrer Umgebung. Sie könne mit Hilfe des „Tobii Talkers“ ihre Bedürfnisse äußern, auch wenn sie dafür sehr viel Zeit benötige. Sie pflege soziale Kontakte auch außerhalb der Familie und treffe sich mit Freunden. Sie werde von der Grundstimmung her als fröhliches Kind beschrieben. Sie erreiche immerhin den Stand eines Kleinkindes. Das Gesamtbild der Erkrankung der Klägerin bleibe trotz seiner Schwere bezüglich des Maßes der Lebensbeeinträchtigung hinter den Fallgruppen zurück, die Gegenstand anderer Referenzentscheidungen gewesen seien, bei denen teilweise ein höheres Schmerzensgeld als 500.000 € zugesprochen worden sei. Bei diesen Fällen habe die Cerebralparese infolge eines hypoxischen Hirnschadens dazu geführt, dass die Kinder zeit ihres Lebens nicht über den Entwicklungsstand eines Säuglings hinauskommen würden und eine Kommunikation kaum möglich sei. Der Umstand, dass die Klägerin aufgrund der verbliebenen kognitiven Fähigkeiten in der Lage sei, ihre Einschränkungen im Vergleich zu anderen Kindern zu erkennen, rechtfertige es nicht, das Maß ihrer Lebensbeeinträchtigung mit den Fällen einer völligen Zerstörung der Persönlichkeit bei einer Hirnschädigung infolge eines Behandlungsfehlers bei der Geburt gleichzusetzen.
Randnummer5
Eine andere Beurteilung ergebe sich auch nicht wegen eines hohen Grades des Verschuldens des Behandlers. Die Haftung beruhe nicht auf einem Behandlungsfehler, sondern auf einem Aufklärungsversäumnis. Dass der Beklagte sich über den ausdrücklichen Wunsch der Kindesmutter nach einer Kaiserschnittentbindung hinweggesetzt hätte, sei streitig und durch die erstinstanzliche Vernehmung der Kindesmutter nicht bewiesen. Es sei schließlich auch nicht angezeigt, den vom Landgericht ausgeurteilten Schmerzensgeldbetrag bei dem hier vorliegenden Dauerschaden anhand einer tageweisen Schmerzensgeldberechnung einer Plausibilitätskontrolle zu unterziehen. Wenngleich dies zu einer größeren Transparenz und rechnerischen Nachvollziehbarkeit von Schmerzensgeldentscheidungen führen möge, erscheine dieser Ansatz angesichts der in der höchstrichterlichen Rechtsprechung etablierten Grundsätze zu schematisch.
II.
Randnummer6
Die Revision der Klägerin bleibt ohne Erfolg.
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1. Die Bemessung des Schmerzensgeldes der Höhe nach ist grundsätzlich Sache des nach § 287 ZPO besonders freigestellten Tatrichters. Sie ist vom Revisionsgericht nur darauf zu überprüfen, ob die Festsetzung Rechtsfehler enthält, insbesondere ob das Gericht sich mit allen für die Bemessung des Schmerzensgeldes maßgeblichen Umständen ausreichend auseinandergesetzt und sich um eine angemessene Beziehung der Entschädigung zu Art und Dauer der Verletzung bemüht hat (Senatsurteile vom 15. Februar 2022 – VI ZR 937/20, zVb; vom 10. Februar 2015 – VI ZR 8/14, VersR 2015, 590 Rn. 7; vom 17. November 2009 – VI ZR 64/08, VersR 2010, 268 Rn. 16; vom 12. Mai 1998 – VI ZR 182/97, BGHZ 138, 388, 391, juris Rn. 11). Die Bemessung des Schmerzensgeldes kann in aller Regel nicht schon deshalb beanstandet werden, weil sie als zu dürftig oder als zu reichlich erscheint; insoweit ist es der Revision verwehrt, ihre Bewertung an die Stelle des Tatrichters zu setzen (vgl. Senatsurteile vom 15. Januar 1991 – VI ZR 163/90, NJW 1991, 1544, 1545, juris Rn. 11; vom 24. Mai 1988 – VI ZR 159/87, NJW 1989, 773, juris Rn. 6; vom 8. Juni 1976 – VI ZR 216/74, DB 1976, 1520 f., juris Rn. 12).
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Maßgebend für die Höhe des Schmerzensgeldes sind im Wesentlichen die Schwere der Verletzungen, das durch diese bedingte Leiden, dessen Dauer, das Ausmaß der Wahrnehmung der Beeinträchtigung durch den Verletzten und der Grad des Verschuldens des Schädigers (Senatsurteile vom 10. Februar 2015 – VI ZR 8/14, VersR 2015, 590 Rn. 8; vom 12. Juli 2005 – VI ZR 83/04, NJW 2006, 1271, 1274, juris Rn. 41; vom 12. Mai 1998 – VI ZR 182/97, BGHZ 138, 388, 391, juris Rn. 13; vgl. ferner Senatsurteil vom 8. Februar 2022 – VI ZR 409/19, Rn. 12, zVb). Dabei geht es nicht um eine isolierte Schau auf einzelne Umstände des Falles, sondern um eine Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalles. Diese hat der Tatrichter zunächst sämtlich in den Blick zu nehmen, dann die fallprägenden Umstände zu bestimmen und diese im Verhältnis zueinander zu gewichten. Dabei sind in erster Linie die Höhe und das Maß der entstandenen Lebensbeeinträchtigung zu berücksichtigen; hier liegt das Schwergewicht (vgl. BGH, Beschlüsse vom 16. September 2016 – VGS 1/16, BGHZ 212, 48 Rn. 54, 70; vom 6. Juli 1955 – GSZ 1/55, BGHZ 18, 149, 157, 167, juris Rn. 19, 42). Auf der Grundlage dieser Gesamtbetrachtung ist eine einheitliche Entschädigung für das sich insgesamt darbietende Schadensbild festzusetzen (vgl. Senatsurteil vom 12. Mai 1998 – VI ZR 182/97, BGHZ 138, 388, 392 f., juris Rn. 15), die sich jedoch nicht rein rechnerisch ermitteln lässt (BGH, Beschluss vom 6. Juli 1955 – GSZ 1/55, BGHZ 18, 149, 154, juris Rn. 15).
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Bei der besonderen Fallgruppe der Schwerstverletzungen mit schweren Hirnschädigungen bei der Geburt, die mit der Einbuße der Persönlichkeit, dem Verlust an personaler Qualität einhergehen, stellt bereits diese mehr oder weniger weitgehende Zerstörung der Persönlichkeit für sich einen auszugleichenden immateriellen Schaden dar, unabhängig davon, ob der Betroffene die Beeinträchtigung empfindet. Eine wesentliche Ausprägung des immateriellen Schadens kann aber darin bestehen, dass der Verletzte sich seiner Beeinträchtigung bewusst ist und deshalb in besonderem Maße unter ihr leidet. Der Tatrichter muss in diesen Fällen wie auch sonst diejenigen Umstände, die dem Schaden im Einzelfall sein Gepräge geben, eigenständig bewerten und aus einer Gesamtschau die angemessene Entschädigung für das sich ihm darbietende Schadensbild gewinnen. Bei der Bewertung der Einbuße ist der Tatsache angemessene Geltung zu verschaffen, dass die vom Schädiger zu verantwortende weitgehende Zerstörung der Grundlagen für die Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit den Verletzten in seiner Wurzel trifft und für ihn deshalb existenzielle Bedeutung hat. Dabei kann der Richter je nach dem Ausmaß der jeweiligen Beeinträchtigung und dem Grad der dem Verletzten verbliebenen Erlebnis- und Empfindungsfähigkeit Abstufungen vornehmen, um den Besonderheiten des jeweiligen Schadensfalles Rechnung zu tragen. Wie auch sonst kann in dieser Fallgruppe die Schwere der Schuld Berücksichtigung finden (vgl. Senatsurteile vom 8. Februar 2022 – VI ZR 409/19, Rn. 23, zVb; vom 16. Februar 1993 – VI ZR 29/92, NJW 1993, 1531, 1532, Ls. und juris Rn. 12 ff.).
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2. Unter Beachtung des aufgezeigten eingeschränkten Prüfungsmaßstabes des Revisionsgerichts und gemessen an den vorgenannten allgemeinen Grundsätzen zur Bemessung des Schmerzensgeldes wie auch denen der besonderen Fallgruppe der Schwerstverletzungen durch Hirnschädigung lässt die Entscheidung des Berufungsgerichts keine Rechtsfehler erkennen.
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a) Ohne Erfolg macht die Revision geltend, dass das Berufungsgericht in Anbetracht der lebenslänglichen schwerwiegenden Dauerschäden das Schmerzensgeld mit der Begrenzung auf 500.000 € unter Missachtung einer notwendigen Plausibilitätskontrolle anhand der Methode einer taggenauen Schmerzensgeldberechnung (vgl. dazu grundlegend Schwintowski/C. Schah Sedi/M. Schah Sedi, Handbuch Schmerzensgeld, 1. Aufl. 2013, 2. Aufl. 2020; dem folgend Oberlandesgericht Frankfurt am Main, VersR 2021, 127; NJW 2019, 442) zu niedrig bemessen habe, denn bei Anwendung der taggenauen Berechnungsmethode stünde der Klägerin bei einer Lebenserwartung von 83 Jahren und einem Ansatz von 40 € pro Tag ein Schmerzensgeldanspruch in Höhe von 1.200.000 € zu. Der Senat hat mit seinem nach der Entscheidung des Berufungsgerichts ergangenen Urteil vom 15. Februar 2022 (VI ZR 937/20, zVb) die im dortigen Streitfall angewandte, oben aufgeführte Methode zur „taggenauen Berechnung“ des Schmerzensgeldes als ungeeignet verworfen. Der Senat hat in dieser Entscheidung ausgeführt, dass diese Berechnungsmethode, auch wenn mit ihr zutreffend die Dauer der Schmerzen, des Leidens und der Entstellungen als auch maßgeblich für die Bemessung der Lebensbeeinträchtigung berücksichtigt wird, keine geeigneten Kriterien für die oben aufgeführten Grundsätze zur Bildung einer einheitlichen Entschädigung aufgrund einer Gesamtbetrachtung liefern kann. Sie führt unter anderem zu einer rechtsfehlerhaften Betonung der Schadensdauer. Als schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar und beliebig hat der Senat die auch von der Revision angeführte Annahme eines Tagessatzes von 40 € für Dauerschäden bei einem 100%igen Grad der Schädigungsfolgen als Prozentsatz des monatlichen Pro-Kopf-Bruttonationaleinkommens erachtet (vgl. nur Senatsurteil vom 15. Februar 2022 – VI ZR 937/20, zVb). Auf die weiteren Ausführungen dieser Entscheidung wird ergänzend Bezug genommen.
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b) Der auch in der Forderung nach einer Plausibilitätskontrolle durch taggenaue Berechnung des Schmerzensgeldes enthaltene Vorwurf der Revision, das Berufungsgericht habe bei der Bemessung des Schmerzensgeldes der Leidensdauer bzw. dem Vorliegen eines Dauerschadens nicht ausreichend Rechnung getragen, ist nicht als durchgreifend zu erachten. Auch insoweit sind im Rahmen des eingeschränkten Prüfungsmaßstabs des Revisionsgerichts Rechtsfehler der Entscheidung nicht festzustellen. Das Landgericht, auf dessen Entscheidung das Berufungsgericht Bezug nimmt und dessen Bemessung es billigt, hat in seine Erwägungen ausdrücklich mit einbezogen, dass bei der Klägerin schwere Dauerschäden vorliegen und ihr jede Möglichkeit einer körperlichen und geistigen Entwicklung genommen ist. Das Berufungsgericht selbst hat den wesentlichen Aspekt der dauerhaften, d.h. lebenslänglichen Beeinträchtigung der Klägerin schon allein dadurch berücksichtigt, dass es den Streitfall der Fallgruppe von Beeinträchtigungen zugeordnet hat, die in der (weitgehenden) Zerstörung der Persönlichkeit bestehen und zur Folge haben, dass der Geschädigte seine Beeinträchtigungen nicht oder nur in geringem Maße empfinden kann, und für die regelmäßig aufgrund der schweren irreversiblen Hirnschädigung auch ihre weitgehende Unheilbarkeit symptomatisch ist.
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c) Dass die Bemessung des Schmerzensgeldes unzureichend sei, weil mit einer weiteren Verschlechterung oder Beeinträchtigung oder medizinischen Eingriffen jetzt schon zu rechnen sei, macht die Revision nicht geltend.
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d) Soweit die Revision die Frage als rechtsgrundsätzlich aufwirft, ob es bei der Bemessung des Schmerzensgeldes bei Geburtsschäden, bei denen es zu einer schweren Hirnschädigung gekommen ist, also für die oben genannte besondere Fallgruppe, eine Obergrenze – derzeit 500.000 € – geben müsse, kommt es auf diese Frage im Streitfall schon nicht an, weil das Berufungsgericht ausdrücklich offengelassen hat, ob eine solche Obergrenze besteht, und den als Obergrenze angesprochenen Betrag von 500.000 € aus anderen Gründen nicht überschritten hat.
Randnummer15
e) Das Berufungsgericht setzt sich mit seinen Ausführungen, trotz des Bewusstseins der Klägerin von ihren Einschränkungen bleibe das Gesamtbild ihrer Erkrankung hinter anderen Fallgestaltungen zurück, in denen die Geschädigten zeit ihres Lebens nicht über den Entwicklungsstand eines Säuglings hinauskämen und eine Kommunikation nicht möglich sei, auch nicht in Widerspruch zur Rechtsprechung des Senats (vgl. Müller, MedR 2021, 737, 738; aA Jaeger, VersR 2021, 1314 ff.). Diese Rechtsprechung sieht nämlich gerade keine regelhafte Erhöhung des Schmerzensgeldes bei verbliebener Einsichtsfähigkeit in die eigene, schwerst beeinträchtigte Lebenssituation vor, sondern danach kann der Tatrichter je nach dem Ausmaß der jeweiligen Beeinträchtigung und dem Grad der dem Verletzten verbliebenen Erlebnis- und Empfindungsfähigkeit Abstufungen vornehmen (vgl. nur Senatsurteil vom 16. Februar 1993 – VI ZR 29/92, NJW 1993, 1531, 1532, juris Rn. 12). Auch wenn der Senat in dieser Entscheidung für das weitere Verfahren darauf hingewiesen hat, dass dem Geschädigten bei einer zukünftigen Steigerung seiner Empfindungsfähigkeit die Möglichkeit erhalten bleiben muss, ein höheres Schmerzensgeld geltend zu machen (darauf abstellend Jaeger, VersR 2021, 1314, 1315), kann daraus nicht ein in nur eine Richtung weisender Automatismus abgeleitet werden, da es, wie bereits ausgeführt, stets auf die Betrachtung des Einzelfalls ankommt.
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f) Letztlich nicht zu beanstanden ist auch, dass das Berufungsgericht im Ergebnis dem Gesichtspunkt des Verschuldens des Beklagten keine das Schmerzensgeld maßgeblich erhöhende Funktion zugewiesen hat. Das Berufungsgericht hat die Senatsrechtsprechung nicht verkannt, wonach der Richter auch in der besonderen Fallgruppe der Zerstörung der Persönlichkeit des Verletzten den Grad des Verschuldens des Schädigers berücksichtigen kann (vgl. nur Senatsurteil vom 8. Februar 2022 – VI ZR 409/19, Rn. 23, zVb mwN) und auch in Arzthaftungssachen dem Gesichtspunkt der Genugtuung grundsätzlich Bedeutung zukommt. So kann ein dem Arzt aufgrund grober Fahrlässigkeit unterlaufener Behandlungsfehler dem Schadensfall sein besonderes Gepräge geben (vgl. Senatsurteil vom 8. Februar 2022 – VI ZR 409/19, Rn. 13, zVb). Zwar wird in der Argumentation des Berufungsgerichts bei der Abgrenzung von anderen Schmerzensgeldentscheidungen nicht zwischen einem groben ärztlichen Fehler und einem hohen Grad des Verschuldens differenziert. Dies ist mit der Rechtsprechung des Senats nicht zu vereinbaren, wonach ein grober Behandlungsfehler weder mit grober Fahrlässigkeit gleichzusetzen ist, noch ihm insoweit eine Indizwirkung zukommt, weil ein grober Pflichtverstoß für sich allein noch nicht den Schluss auf ein entsprechendes gesteigertes persönliches Verschulden zulässt (vgl. Senatsurteil vom 8. Februar 2022 – VI ZR 409/19, Rn. 14 ff., zVb). Allerdings führt dies im Streitfall nicht zu einer rechtsfehlerhaften Bemessung des Schmerzensgeldes. Das Berufungsgericht stellt zutreffend darauf ab, dass dem Streitfall die Haftung des Arztes wegen einer unzureichenden Eingriffs- und Risikoaufklärung zugrunde liegt. Auch in diesem Pflichtenkreis kann zwar die subjektive personale Seite der Verantwortlichkeit, also ein Verschulden von Bedeutung sein und dem Schadensfall sein besonderes Gepräge geben. Doch hat das Berufungsgericht dies nicht verkennend dem Aufklärungsversäumnis im Streitfall keinen gewichtigen Schuldvorwurf zugemessen, nachdem nach Vernehmung der Kindesmutter nicht festgestellt werden konnte, dass der Beklagte sich über einen ausdrücklichen Wunsch nach einer Sectio hinweggesetzt hätte. Sonstige Anhaltspunkte für einen die Bemessung prägenden Schuldvorwurf werden auch von der Revision nicht geltend gemacht.
Seiters
Offenloch
Müller
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Böhm