Gegenseitige Tiergefahr
Wer haftet, wenn ein Tier das andere verletzt? Eine Frage, um die oftmals vor Gericht gestritten wird, zumal die streitigen Vorgänge auch nicht immer unter Zeugen stattfinden und somit der Tatverlauf schwer nachweisbar ist. Dann ist ausschlaggebend, wer welchen Umstand beweisen muss – und auch diese rechtliche Frage wird oftmals unterschiedlich von den Gerichten beurteilt. So kommt es bei Schadensfällen mit Tieren untereinander einzelfallbedingt immer zu anderen Haftungsquoten – ähnlich wie bei Verkehrsunfällen auch. Kompliziert wird es insbesondere dann, wenn mehrere Pferde beteiligt sind, z.B. in einer Herde, die in einer Offenstallhaltung gehalten wird oder gemeinsamen Weidegang genießt. Wird nun ein Pferd auf der Weide verletzt und ist unklar, wie es zu der Verletzung gekommen ist, ist sowohl die Sach- als auch die Rechtslage nicht ganz einfach zu beurteilen. Zunächst wird der Tierarzt eine Prognose abgeben können, um welche Art der Verletzung es sich handelt, z.B. einen Schnitt von einer kaputten Zaunlitze oder eher den Tritt eines Artgenossen.
Festlegen wird sich der Veterinär in den allermeisten Fällen nicht, dennoch gibt es Verletzungen, die sich schon eindeutig zuordnen lassen. Handelt es sich nun um einen Biss oder eine Trittverletzung, die ohne Beobachtung eingetreten ist, stellt sich die Frage nach der Haftung der anderen Halter. Das Bürgerliche Gesetzbuch sieht in solchen Fällen eine gemeinschaftliche Haftung vor, wenn mehrere die gefährdende Handlung begangen haben und unklar ist durch wen genau der Schaden verursacht wurde.
In der Vergangenheit wurde diese Vorschrift auch in Tierhalterhaftungsfällen bereits angewandt. So z.B. vom Bundesgerichtshof 1970 in einem spektakulären Fall, in dem drei Gespanne durchgingen und eine Reihe parkender Autos beschädigten. Natürlich konnte am Ende nicht mehr genau geklärt werden, welches Pferd nun genau welchen Schaden an welchem Auto verursacht hatte. Weil sich bei allen Pferden aber die unberechenbare Tiergefahr unmittelbar in dem schädigenden Ereignis niedergeschlagen hatte, urteilte das Gericht, dass alle Halter der verschiedenen Pferde gleichermaßen für den entstandenen Sachschaden aufkommen mussten (BGH, 15.12.1070; VI ZR 121/69). In einem aktuell vom Oberlandesgericht Schleswig-Holstein zu entscheidenden Fall erlitt eine mit 14 anderen Pferden zusammen auf einem Paddock untergebrachte Stute eine Griffelbeinfraktur. Wie es genau dazu gekommen war, hatte niemand beobachtet. Die Eigentümerin des verletzten Pferdes konnte schon nicht beweisen, dass die Verletzung überhaupt durch den Tritt eines der anderenen Pferde verursacht worden war. Im Übrigen sprach das Gericht jedoch auch deswegen die anderen Pferdehalter „frei“, da auch offen bleiben musste, welches Pferd sich denn überhaupt gefährdend verhalten habe. Im Unterschied zu dem Kutschenfall nämlich, in dem sich ja alle beteiligten Pferde gefahrerhöhend verhaklten und insofern auch alle für die Schädigung in Betracht kamen, standen hier bewusst und gewollt die Pferde ja allesamt nur gemeinsam auf dem Paddock. Welches Pferd nun ein gefährdendes Verhalten gezeigt haben sollte, konnte die Geschädigte naturgemäß nicht beweisen. Deswegen haftete im Ergebnis keiner für den Schaden (OLG Schleswig, 16.12.2016; 17 U 52/16). Das Gericht war außerdem der Ansicht, dass die Pferdehalter, die ihre Pferde gemeinsam auf eine Wiese stellen, mit Interaktionen der Pferde untereinander zu rechnen haben und damit auch das Risiko von dabei eintretenden Verletzungen in Kauf genommen wird – ebenso das Risiko der nachträglichen Unaufklärbarkeit der Verursachung solcher Verletzungen.
Auch wenn unstreitig ist, welches Pferd welches genau wie verletzt hat, wird vor Gericht oft um den Haftungsanteil gestritten. Denn die gängige Praxis der regulierenden Tierhaftpflichtversicherungen ist in solchen Fällen 50 % des Schadens zu erstatten, mit der Begründung, es handele sich bei dem schädigenden Ereignis um die Verwirklichung der „gegenseitigen Tiergefahr“ – gemeint ist damit, dass beteiligten Tiere immer in irgendeiner Form beide an dem Schadenseintritt mitgewirkt haben und deswegen das verletzte Pferd grundsätzlich zu 50 % „mitschuldig“ ist. Vor Gericht fallen die Urteile unterschiedlich aus. Das Landgericht Münster entschied nun in einem aktuellen Fall zu 100 % zugunsten des verletzten Pferdes, da der Schaden ausschließlich durch den Tritt des Pferdes aus der Nachbarbox gegen den Kopf des verletzten Pferdes verursacht worden war. Auch diesen Vorfall an sich hatte niemand beobachtet, so dass offen bleiben musste, inwieweit das geschädigte Pferd selbst an dem Eintritt des Schadens mitgewirkt hatte. Nach Einholung eines tiermedizinischen Sachverständigengutachtens zu der Verletzung und der Örtlichkeit stand jedenfalls zur Überzeugung des Gerichts fest, dass das Pferd seinen Kopf über die Trennstange hinaus in die Nachbarbox gehalten haben musste. Dieses Verhalten sei von den Pferdebesitzern ja auch gewünscht und die so gestaltete Boxenhaltung zulässig und artgerecht. Ein Gefahr erhöhendes Verhalten des geschädigten Pferdes sah das Gericht allein darin jedoch nicht. Dass insofern bis zum Schluss die Art der Eigenbeteiligung des verletzten Pferdes an dem Tritt des Nachbarpferdes nun offen bleiben musste, legte das Gericht zum Nachteil des Halters des tretenden Pferdes aus. Denn der Schädiger müsse beweisen, dass auf Seiten des Geschädigten ein Gefahr begründendes Verhalten seines Tieres auf die Schadensentstehung ausgewirkt habe (Landgericht Münster, Urteil vom 18.01.2017; 1 S 64/16).