Überholen auf dem Abreiteplatz
Jedes Wochenende tummeln sich wieder alle turniersportbegeisterten Reiter auf den Abreiteplätzen der ausrichtenden Reitvereine. Trotz aller gebotener Vorsicht, gegenseitiger Rücksicht und verstärkter Aufsicht durch die Richter lassen sich im Eifer des Gefechts nicht alle Unfälle vermeiden, insbesondere wo sich nun einmal die Unberechenbarkeit tierischen Verhaltens realisiert. Auf vollen Abreiteplätzen, gerade bei niedrigeren Prüfungen herrscht ein erhöhtes Risiko des sich gegenseitigen Umreitens oder der Verletzung von Mensch und Tier durch Tritte. Wer in einem solchen Fall für den jeweils eingetretenen Schaden haftet, ist völlig einzelfallabhängig. In der konkreten Situation kann das Mitverschulden der Reiter eine Rolle spielen, z.B. dann wenn diese sich nicht an die Hufschlagregeln gehalten haben. Aber auch eine gegenseitige Provokation der Pferde kann sich auf die Haftungsquote auswirken – die so genannte „gegenseitige Tiergefahr“ .
Zwei Instanzgerichte in Koblenz hatten sich aktuell mit einem solchen klassischen Abreiteplatzunfall zu beschäftigen: Es wurde vor einer Springprüfung auf dem Abreiteplatz abgeritten. Eine Reiterin befand sich im Galopp auf dem dritten Hufschlag, während eine Andere ihr Pferd im Schritt auf dem ersten Hufschlag ritt. Als die galoppierende Reiterin die Schritt reitende überholte, schlug deren Pferd nach hinten aus und traf die überholende Reiterin am Bauch, an der rechten Hand und am Arm, so dass diese erheblich verletzt wurde.
Das erstinstanzlich mit dem Fall befasste Landgericht Koblenz entschied, dass der Halter des schlagenden Pferdes für die verletzungsbedingten Ansprüche der Geschädigten haften muss, aus der klassischen verschuldensunabhängigen Tierhalterhaftung heraus. Denn grundsätzlich haftet jeder private Tierhalter unabhängig eines eigenen oder fremden Verschuldens zunächst einmal jedem gegenüber für den Schaden, der durch sein Tier verursacht wurde.
Dies gilt allerdings nur dann, wenn sich auch die typische Unberechenbarkeit tierischen Verhaltens in dem Geschehen niedergeschlagen hat. Die Haftung entfällt hingegen, wenn ein Tier sich unter menschlicher Leitung befindet, seinem „Lenker“ in diesem Falle dem Reiter gehorcht und der Schaden somit durch den Menschen und nicht durch das Tier herbeigeführt wird. So wurde z.B. im Falle eines Demonstranten, der von einem Polizeipferd auf den Fuß getreten worden war, keine Entschädigung zugesprochen, da der Polizist das Pferd ja im Schritt bewusst durch die Menge bewegt hatte, als der Demonstrant seinen Fuß dazwischen bekam. Das Pferd hatte in diesem Falle voll und ganz seinem Reiter gehorcht, weshalb der Schaden nicht „durch das Pferd“ verursacht wurde, sondern durch den Reiter.
Im vorliegenden Beispielsfall wurden die Verletzungen der überholenden Reiterin jedoch eindeutig durch den Tritt des anderen Pferdes verursacht, der nicht im Sinne seiner Reiterin geschah. Obgleich sich beide Pferde hier also unter menschlicher Leitung befanden, hat sich dennoch die unberechenbare Tiergefahr in dem Austreten des einen Pferdes nach dem anderen niedergeschlagen.
Der Tierhalter ging jedoch gegen das Urteil in Berufung, da er der Ansicht war, die verletzte Reiterin trage ein Mitverschulden an dem Unfall. Das Oberlandesgericht Koblenz musste sich somit noch einmal mit sämtlichen Aspekten des beiderseitigen Verschuldens an dem Unfall neben der Tierhalterhaftung auseinandersetzen. So wurde der Reiterin des schlagenden Pferdes z.B. vorgeworfen, dies hätte gar nicht auf dem Abreiteplatz bewegt werden dürfen, da es zum Austreten nach anderen Pferden neigte. Dem trug die Reiterin jedoch Rechnung, in dem sie den Schweif des Pferdes mit einer roten Schleife markiert hatte. Diese Gepflogenheit weist die anderen Reiter auf die besondere Gefahr hin und gebietet, Abstand zu halten. Das Gericht sah hier weder ein Verschulden auf der einen noch auf der anderen Seite. Auch dass beide Reiterinnen sich nicht an die Hufschlagregeln gehalten hatten, spielte für den Unfall keine Rolle. Denn zwar hätte die sich die eine Reiterin nicht im Schritt auf dem ersten Hufschlag befinden dürfen und die andere auch nicht auf dem dritten Hufschlag herangaloppieren (vielmehr hätte es umgekehrt sein müssen). Aber das Gericht befand diesen beiderseitigen Regelverstoß in diesem Falle für unbeachtlich für die Haftungsfrage. Die Klägerin hätte so oder so beim vom hinten Herangaloppieren an das mit dem roten Band gekennzeichneten Pferd große Vorsicht walten lassen müssen, gleich ob auf dem dritten oder dem ersten Hufschlag.
Im Ergebnis wurde das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Haftung zu 50 % zwischen den beiden Parteien geteilt. Das Gericht entschied, die verletzte Reiterin müsse sich die von ihrem eigenen Pferd ausgehende Tiergefahr wie ein Mitverschulden anrechnen lassen. Schließlich habe das von hinten herangaloppierende Pferd den Impuls des im Schritt gehenden Pferdes ausgelöst, nach hinten auszuschlagen und so die Realisierung der unberechenbaren Tiergefahr in dem Unfall zur Hälfte mit verursacht (Urteil des OLG Koblenz vom 07.01.2016 1 U 422/15).