BGH 28.022024 – 4 StR 369/23
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag und nach Anhörung des
Generalbundesanwalts sowie nach Anhörung der Beschwerdeführerin am 28. Februar 2024 gemäß § 349 Abs. 2 und 4, § 354 Abs. 1 analog StPO beschlossen:
- Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Kassel vom 5. Juni 2023 im Schuldspruch dahin geändert, dass die Angeklagte des versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in jeweils zwei tateinheitlichen Fällen und in weiterer Tateinheit mit schwerem gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr schuldig ist.
- Die weiter gehende Revision wird verworfen.
- Es wird davon abgesehen, der Beschwerdeführerin die Kosten und Auslagen des Revisionsverfahrens aufzuerlegen; jedoch hat sie die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Gründe:
- Das Landgericht hat die Angeklagte wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in jeweils zwei tateinheitlich zusammentreffenden Fällen, in weiterer Tateinheit mit vorsätzlichem Eingriff in den Straßenverkehr und vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs in der Absicht der Herbeiführung eines Unglücksfalles und der Verursachung einer schweren Gesundheitsschädigung zu einer Jugendstrafe von vier Jahren verurteilt. Ferner hat es der Angeklagten die Fahrerlaubnis entzogen und eine Sperrfrist für deren Wiedererteilung angeordnet. Hiergegen wendet sich die Angeklagte mit ihrer auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen geringen Teilerfolg und führt zur Abänderung des Schuldspruchs; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
- Der Schuldspruch hält einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand, soweit die Angeklagte tateinheitlich wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 2 lit. f) StGB schuldig gesprochen worden ist.
- a) Nach den Feststellungen fuhr die Angeklagte am späten Freitagnachmittag des 13. Mai 2022 mit ihrem Pkw über die Autobahnzufahrt „B. “ auf die Bundesautobahn, wendete auf der zweispurigen Richtungsfahrbahn und befuhr nun die Überholspur in entgegengesetzter Richtung. Dabei handelte sie in der Absicht, einen Unfall zu verursachen, um Suizid zu begehen. Der Angeklagten kam alsbald ein Konvoi mehrerer Kraftfahrzeuge entgegen, von denen einige bereits zum Überholen angesetzt hatten. Die Fahrzeugführer vollzogen nach Wahrnahme des ihnen entgegenkommenden Pkw der Angeklagten sofortige Brems- und Ausweichmanöver, sodass eine Kollision noch vermieden werden konnte. Nachdem die Angeklagte knapp 500 m auf der Überholspur zurückgelegt hatte, lenkte sie in Suizidabsicht gezielt ihr Fahrzeug mit einer Geschwindigkeit von mindestens 110 km/h auf das ihr auf der rechten Fahrspur entgegenkommende Fahrzeug der Nebenklägerin. Dabei nahm sie billigend in Kauf, dass durch den Zusammenstoß die Insassen dieses Fahrzeuges zu Tode kommen. Ihr war auch bewusst, dass durch die Verursachung einer Frontalkollision auf einer Bundesautobahn andere Verkehrsteilnehmer, unter anderem mangels Ausweichmöglichkeit, getötet oder verletzt werden können. Die Nebenklägerin versuchte noch ihr Fahrzeug auf den Standstreifen zu lenken, was ihr jedoch nicht mehr gelang. Die Fahrzeuge stießen überlappend mit dem jeweils linken Frontbereich zusammen. Die Nebenklägerin erlitt hierdurch sehr schwere und ihr Beifahrer schwere Verletzungen.
- b) Auf der Grundlage dieser Feststellungen kann die tateinheitlich erfolgte Verurteilung wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 2 lit. f) StGB nicht bestehen bleiben.
- Zwar hat die Angeklagte durch das Wendemanöver auf der Bundesautobahn und das anschließende Befahren der Überholspur in der Gegenrichtung Tathandlungen im Sinne des § 315c Abs. 1 Nr. 2 lit. f) StGB begangen. Diese haben zunächst aber nicht zu einer konkreten Gefährdung von Leib oder Leben eines anderen oder fremder Sachen von bedeutendem Wert geführt. Denn die Urteilsgründe ergeben insoweit nicht, dass es in der Folge dieses Teilaktes zu einem „Beinahe-Unfall“ mit dem Gegenverkehr kam. Der Umstand, dass nach den Feststellungen einzelne Kraftfahrer Brems- und Ausweichmanöver vornehmen mussten, reicht dafür nicht aus (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 6. Juli 2021 – 4 StR 155/21 Rn. 5 mwN; Beschluss vom 24. September 2013 – 4 StR 324/13 Rn. 5). Die anschließende mit Fremd- und Selbstschädigungsvorsatz vollzogene gezielte Zufahrt auf den Pkw der Nebenklägerin und die dadurch herbeigeführte Kollision erfüllt dann den Tatbestand des § 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB. Der im Rahmen dieses Teilaktes gleichzeitig verwirklichte Tatbestand des § 315c Abs. 1 Nr. 2 lit. f) StGB trat dahinter zurück (vgl. BGH, Beschluss vom 14. November 2006 – 4 StR 446/06 mwN).
- Der Senat ändert den Schuldspruch in entsprechender Anwendung von § 354 Abs. 1 StPO ab. § 265 StPO steht dem nicht entgegen, da sich die Angeklagte nicht wirksamer als geschehen hätte verteidigen können. Angesichts der unverändert für die Verhängung und Bemessung der Jugendstrafe wegen der Schwere der Schuld (§ 17 Abs. 2 Var. 2 JGG, § 18 JGG; § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG)
maßgeblichen Umstände ist auszuschließen, dass das Landgericht bei zutreffender rechtlicher Würdigung der Straßenverkehrsdelikte eine geringere als die verhängte Jugendstrafe für das von der Angeklagten verwirklichte Kapitalverbrechen festgesetzt hätte. Soweit die Jugendkammer bei der Zumessung der Jugendstrafe zum Nachteil der Angeklagten gewertet hat, dass sie kein Wort des
Bedauerns an die beiden geschädigten Fahrzeuginsassen in der Hauptverhandlung richtete, erscheint dies mit Rücksicht darauf, dass sie Erinnerungslücken geltend gemacht hat, nicht unbedenklich. Denn auch im Jugendstrafrecht gilt der Grundsatz, dass zulässiges Verteidigungsverhalten nicht zum Nachteil der Angeklagten gewertet werden darf (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 13. April 2023 – 4 StR 499/22 mwN). Jedoch schließt der Senat aus, dass das Landgericht ohne Berücksichtigung dieser Erwägung auf eine niedrigere Strafe erkannt hätte. - Der Senat hat davon abgesehen, der Beschwerdeführerin die Kosten und Auslagen des Revisionsverfahrens aufzuerlegen (§ 74, § 109 Abs. 2 JGG). Jene hat gleichwohl die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Februar 2020 – 4 StR 583/19).
Quentin
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Marks